InterviewVon der Wirtschaft durchdrungen
Herr Sander, die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland kann bereits auf eine längere Geschichte zurückblicken. Es gab schon Ende der 1990er-Jahre die Programme Media@Komm und später dann BundOnline 2005 (wir berichteten). Auf welche Weise war die Privatwirtschaft daran beteiligt?
Die Privatwirtschaft war damals auf verschiedene Weise eingebunden und eine so deutliche Trennung zwischen Privat und Staat gab es bei Media@Komm noch nicht – das entstand erst danach. Es gab Mischformen wie das Joint Venture Governikus, die damals als bremen online services beteiligt waren, und es gab eine kooperative Zusammenarbeit mit Unternehmen und Start-ups in Nürnberg und Esslingen. Nicht zu vergessen: Etwa die Hälfte der finanziellen Mittel wurden von Kommunen und Wirtschaft gemeinsam aufgebracht. Insofern waren die Projekte damals komplett von der Wirtschaft durchdrungen. Die Digitalisierung wurde als gemeinsame Herausforderung definiert und gemeinsam angegangen. Ich will nicht sagen, dass Media@Komm nur deshalb das erfolgreichste und effizienteste Digitalisierungsprojekt war, aber die Wirtschaft hatte neben den Kommunen einen großen Anteil daran.
Unter Beteiligung der Privatwirtschaft sind XML-Datenaustauschformate etwa für Kfz und Gewerbemeldungen entstanden oder ein Verfahrensmodell für Geschäftsprozesse. Existieren die noch heute?
Media@Komm war von Anfang an als Wettbewerb konzipiert. Jedes Projekt und alle Beteiligten wollten die Nase vorn haben. Es war auch das einzige Programm, das von Anfang an auf Standardisierung setzte und sie institutionalisiert hat. Nicht nur mit dem Aufbau der OSCI-Leitstelle in Bremen, sondern auch durch die Einbindung des Deutschen Instituts für Normung. So wurden unter der Leitung des DIN mit den wichtigsten Software-Herstellern im kommunalen Sektor innerhalb von zwei Jahren mehrere wegweisende Standards entwickelt. Nach dem Ende von Media@Komm fehlte aber eine Institution, welche die Standards für alle als verbindlich erklärt hätte. Zudem wollte sich die öffentliche Hand diese Dinge nicht von der Wirtschaft vorschreiben lassen. Die öffentlichen Akteure begannen eigene Standards nach dem gleichen Schema zu entwickeln, sodass es zeitweise zwei XStandards für dasselbe Thema gab. Hervorheben will ich auch, dass es schon damals beim DIN gute Entwicklungen gab, die leider bis heute von niemandem aufgegriffen wurden. Beispielsweise gab einen Standard für das User Interface von E-Government-Diensten. Den könnten wir heute gut gebrauchen, wo jedes Land seine EfA-Leistungen so entwickelt, wie es ihm gefällt.
„Wir sollten lernen, dass Digitalisierung eine Gemeinschaftsaufgabe ist.“
Was ist von MEDIA@Komm und von BundOnline 2005 geblieben?
Media@Komm ist aus unserer Sicht das bisher effizienteste E-Government-Projekt des Staates gewesen. Der finanzielle Rahmen war überschaubar und von den Ergebnissen wie OSCI und den XStandards profitieren wir noch heute. BundOnline 2005 war das erste Programm mit neuen Projektstrukturen. Es war viel Geld im Spiel und lockte neue Player wie die großen Beratungsunternehmen an. Zum Nachweis des Erfolgs wurden einfach Kästchen gezählt. Geblieben ist aus unserer Sicht nicht viel, aber fairerweise muss ich sagen, dass wir eher auf der kommunalen Ebene unterwegs sind.
Der Bund reklamierte 440 fertiggestellte Leistungen im Jahr 2005? Wie erklärt es sich, dass im Zuge des Onlinezugangsgesetzes nochmal 115 Leistungen angegangen worden sind?
Das meinte ich mit ´Kästchen zählen`. Bei BundOnline 2005 hatte man sich von den Realitäten gelöst. Eine Leistung wurde als digitalisiert angenommen, wenn bestimmte Kriterien erfüllt waren, die aber nichts mit der tatsächlichen Nutzbarkeit zu tun hatten. Die meisten Leistungen waren in der Praxis unbrauchbar oder durften wegen fehlenden Rechtsrahmens gar nicht eingesetzt werden. Das hat der Bund später erst erkannt. Wir hatten allerdings diese Erkenntnis bereits fünf Jahre vorher in den Arbeitsgruppen beim DIN gewonnen, als wir versuchten, fachbereichsübergreifend einen Adress-Datensatz zu standardisieren und dabei beispielsweise feststellten, dass gesetzlich im Standesamtsrecht die Adresse anders und inkompatibel definiert war als im Melderecht. An der Stelle enden dann die Möglichkeiten der technischen Expertise und die Politik hätte ins Arbeiten kommen müssen, anstatt ständig neue Projekte ins Leben zu rufen und mit viel Geld auszustatten.
Was können wir aus der Geschichte der Verwaltungsdigitalisierung für die Zukunft lernen?
Wir sollten daraus lernen, dass Digitalisierung eine Gemeinschaftsaufgabe ist, so wie sie schon bei Media@Komm von den Teilnehmern verstanden wurde. Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft müssen kooperativ und gemeinsam Prozesse und Anwendungen entwickeln, statt diese vom Bund ohne Einbeziehung der Akteure vorgegeben zu bekommen. Zudem sollten die Prozesse gemeinsamen Standards folgen und damit bundesweit einsetzbar sein. Die Wirtschaft bei der Digitalisierung immer mehr zu diskreditieren und auszusperren, ist eine gefährliche Sackgasse. Die Politik muss ihrer Rolle als Rechtsetzungsinstitution nachkommen und einen Rahmen schaffen, in dem Innovation und Modernisierung in der Verwaltung überhaupt erst möglich werden. Auf keinen Fall sollten Technologien gesetzlich vorgegeben werden, die dann meist schon veraltet sind, wenn das Gesetz in Kraft tritt. Nicht zuletzt sind wir ein dezentral organisiertes Land – wenn Digitalisierung erfolgreich sein soll, muss sie den Bedürfnissen von Verwaltungen und Menschen vor Ort entsprechen, so unterschiedlich sie in der Fläche auch sein mögen.
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