RatsinformationssystemeDie Zukunft der Ratsarbeit
Vor zehn Jahren sei er noch mit einem großen Auto und zig Kartons voller Magistratsunterlagen zur Recycling-Anlage gefahren, erinnert sich Oliver Stienen, Fraktionsgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen in Darmstadt. Das Papieraufkommen in der Geschäftsstelle und den Sitzungen habe sich seit der Einführung eines Ratsinformationssystems enorm verbessert: „In die letzte Legislaturperiode hätte ich mit zwei Aktenordnern gehen können oder eben mit dem Tablet.“ Nicht nur die Kommunalpolitik, auch die Verwaltung kann von moderner Software für das Sitzungsmanagement profitieren. Bernhard Papke aus der Abteilung Ratsangelegenheiten, Öffentlichkeitsarbeit und Stadtmarketing der Stadt Lahr im Schwarzwald erläutert: „Die Veröffentlichung von Tagesordnungen und Vorlagen war früher sehr aufwendig, dies ist jetzt über den Sitzungsdienst unkompliziert möglich.“ Des Weiteren habe sich die Protokollerstellung und die Abrechnung von Sitzungsgeldern stark vereinfacht. Kein Wunder, dass viele Verwaltungen ihre Arbeitsabläufe bereits vor der Einführung der ersten professionellen Sitzungsdienstlösungen Anfang der 1990er-Jahre mit selbstgestrickten Programmen beispielsweise auf Basis von Lotus Notes zu verbessern suchten. Mitte der 1990er-Jahre gesellten sich neben die Desktop-Anwendungen für das Sitzungsmanagement die ersten so genannten Ratsinformationssysteme (RIS). Das Ziel der neuen browserbasierten Features war und ist es, einerseits den Mandatsträgern alle Informationen und Dokumente für die politische Arbeit zur Verfügung zu stellen und andererseits die Bürger über Sitzungen und deren Ergebnisse auf der kommunalen Website zu informieren. Dabei gestaltet sich der generelle Workflow mit Sitzungsdienst und RIS wie folgt: Im Rahmen des Sitzungsmanagements werden die Tagesordnungspunkte aufgelistet und die Sitzungsvorlagen und Fraktionsunterlagen von den Verwaltungsmitarbeitern zusammengestellt. Die Einladungen werden entsprechend per Serienbrief im Idealfall als PDF versandt. Später müssen die Daten in das RIS eingepflegt werden, wobei auch hier die Verwaltung darüber entscheidet, welche Daten sie wem zur Verfügung stellt. Die Ratsmitglieder selbst sind – von den Fraktionszimmern größerer Verwaltungen einmal abgesehen – in der Regel nicht an den Sitzungsdienst angeschlossen, haben aber beim Zugriff auf das über die Website zur Verfügung gestellte RIS mehr Rechte als die Bürger und können somit auch vertrauliche Unterlagen einsehen. Die Nachbereitung von Sitzungen einschließlich Protokollgenehmigung und Sitzungsgeldabrechnung erfolgen wieder im Sitzungsdienst.
Mit Tablet und App in die Sitzung
Trotz Sitzungsdienst und RIS – beide Anwendungen werden heute oft unter der Bezeichnung Ratsinformationssystem zusammengefasst – sind die meisten Kommunen vom Idealfall einer papierlosen Gremienarbeit noch weit entfernt. Thomas Franz, Geschäftsführer von more! software, schätzt, dass gerade einmal 15 Prozent aller Kommunen, die ein Ratsinformationssystem einsetzen, komplett papierlos arbeiten. Meistens finde man einen analog-digitalen Mischbetrieb vor. Laut dem Geschäftsführer des Hamburger Lösungsanbieters CC e-gov, Kurt Hühnerfuß, beherrschen die Umstellung auf den digitalen Ratsdienst und der Verzicht auf den Papierversand allerdings das aktuelle Geschäft. Sitzungs-Apps für den mobilen Einsatz sind seit circa fünf Jahren auf dem Markt und sollen diese Entwicklung beschleunigen. Der Vorteil: Wer mit der App arbeitet, braucht kein WLAN. Entsprechend statten immer mehr Kommunen ihre Ratsmitglieder mit Tablets aus. So plant es derzeit beispielsweise die Stadt Fehmarn. Auch hier boten tausende Kopien und ausufernde Arbeitszeiten Anlass für die Einführung eines Ratsinformationssystems, sagt Günther Schröder, Fachbereichsleiter der allgemeinen Verwaltung. Spätestens in drei Jahren soll sich das neue System durch die zu erwartenden Einsparungen refinanzieren. Insbesondere größere Städte, denen die Anschaffung von Tablets für alle politischen Mandatsträger zu teuer ist, erzeugen stattdessen Anreize in Form von Aufwandsentschädigungen für die Räte zur Nutzung eigener Geräte. „Im Zuge der Entscheidung für den Einsatz mobiler Endgeräte kommt es dabei auch immer häufiger zur Ablösung vorhandener Software-Produkte durch ein leistungsfähigeres System“, berichtet Kurt Hühnerfuß. „Wir führen jeden Monat ein bis zwei solcher Projekte durch.“ Aktuell sind nach Einschätzung von CC e-gov gut ein Dutzend Anbieter von RIS-Lösungen auf dem Markt, Hühnerfuß hält jedoch eine Abnahme derselben im Sinne einer Marktkonzentration für absehbar. Laut Bernd Thiem, Geschäftsführer von Somacos, und Jan-Christoph Reuscher, bei der Firma Sternberg zuständig für den Vertrieb, ist der Verdrängungswettbewerb schon in vollem Gange. Bereits heute hätten vier große Hersteller einen Großteil der Kunden unter sich aufgeteilt, bestätigt Thomas Franz. Neben more! software (more! rubin – Rats- und Bürgerinfosystem) seien dies die RIS-Anbieter CC e-gov (ALLRIS), Somacos (Session/SessionNet/Mandatos) und Sternberg (SD.NET).
Trends in der RIS-Welt
Seit dem Jahr 2000 schreitet die Verbreitung von Ratsinformationssystemen insbesondere in größeren Kommunen voran. Hühnerfuß: „Ich schätze, dass etwa die Hälfte der Verwaltungen mit mehr als 20.000 Einwohnern ein solches Verfahren bereits einsetzt.“ Mit dieser Annahme steht der Experte nicht alleine. Franz und Thiem gehen von einem ähnlichen Verbreitungsgrad aus. Laut Thiem befindet sich der RIS-Markt derzeit noch in einer Wachstumsphase. In fünf bis sieben Jahren arbeite aber vermutlich auch die letzte Kommune in Deutschland mit einem Ratsinformationssystem. Ganz anders die Einschätzung von Reuscher, der vermutet, dass bereits 70 bis 80 Prozent aller Kommunen in Deutschland ein RIS im Einsatz haben. Deshalb sei es schon heute wichtig, sich für die Zukunft breiter aufzustellen. Denn: Die Wertschätzung der digitalen Angebote ist groß. Etliche Verwaltungen dehnen bereits die Einsatzgebiete der RIS-Anwendungen auf Beteiligungsgesellschaften wie Stadtwerke, das städtische Klinikum oder den Nahverkehr aus. Entsprechend hat das Unternehmen Sternberg in Zusammenarbeit mit der Universität Clausthal im Harz bereits ein Zusatzmodul für Wissenschaftsbetriebe und Universitäten entwickelt. In einigen Verwaltungen und insbesondere in Großstädten habe man gar den Eindruck, so Bernd Thiem, dass in den Fraktionen bevorzugt Mandate von der Bereitschaft zur digitalen Arbeit abhängig sind. Neben der Mobilfähigkeit der Informationen nennt der Somacos-Geschäftsführer eine Reihe weiterer Trends aus der RIS-Welt: die Migration autonomer Lösungen in BSI-zertifizierte Rechenzentren, die Ablösung von Individualentwicklungen durch standardisierte Produkte sowie die Integration in Transparenzportale. Jan-Christoph Reuscher hält außerdem das Thema Interaktion für zukunftsweisend. So forderten Fraktionsmitglieder zunehmend die Möglichkeit, selbst Dokumente einstellen zu können und mit der Verwaltung in Kontakt zu treten. Die Entscheidung für den Einsatz eines Ratsinformationssystems werde heutzutage oft von der Politik ausgelöst, die das papierlose Arbeiten anstrebt, berichtet more! software-Geschäftsführer Thomas Franz. Anschließend werde die Verwaltung beauftragt, sich auf dem Markt umzuschauen. In einigen Fällen sei es aber auch die Verwaltung, die das papierlose Arbeiten vorantreibe. Deren primäre Intention sei es, den Haushalt zu schonen und Ausgaben zu reduzieren. Bei der Auswahl einer geeigneten RIS-Lösung schauen die Kommunen vor allem darauf, welches Verfahren am besten in die vorhandene IT-Infrastruktur passt – Schnittstellen, beispielsweise zu einem Dokumenten-Management-System (DMS), sind hier ein wichtiges Thema – und welche Software am ehesten die Verwaltungsabläufe widerspiegelt, erklärt der Experte. Dabei sei es erstaunlich, mit welch unterschiedlichen Strukturen selbst benachbarte Verwaltungen arbeiten. Weitere Kriterien seien neben der Optik eine gut funktionierende Volltextrecherche sowie eine einfache Datenhaltung und Sitzungsgeldabrechnung. Begrenzungen bezüglich des Datenvolumens gibt es nach Angaben von Jan-Christoph Reuscher keine, die Daten müssten lediglich so aufbereitet werden, dass sie vom Tablet verarbeitet werden können. Dabei sei es sinnvoll, alle Sitzungsunterlagen im RIS vorzuhalten. Dies erhöhe die Performanz. Außerdem benötigten die als PDF gespeicherten Sitzungsunterlagen aus 20 Jahren Ratsarbeit ohnehin meist nicht mehr als zehn Gigabyte Speicherkapazität.
Erst Skepsis, dann Erfolg
Die Einführung eines Ratsinformationssystems, so Franz, stößt längst nicht bei allen Mitarbeitern einer Verwaltung auf Gegenliebe. Gerade jene, die nur ein bis zweimal im Jahr eine Vorlage erstellen müssen, machen dies oft lieber in einem Word-Dokument. Entsprechende Schnittstellen können hier hilfreich sein. Eine anfängliche Skepsis kann nicht nur Jan-Christoph Reuscher, sondern auch Ferdinand Beer, Leiter Kundenbetreuung bei komuna, dem Anbieter von komuna-RIS mit integriertem DMS, bestätigen. Sie sei aber keineswegs am Alter festzumachen. „Wir bemerken, dass die von vielen thematisierte Altersstruktur der Räte absolut kein Hindernis in der Akzeptanz darstellt“, so Beer. Wenn es trotz anfänglicher Widerstände zur Einführung eines RIS kommt, ist die Resonanz später fast immer positiv. So auch bei der Stadt Lahr. Obwohl von langer Hand geplant, wurde die Anschaffung eines RIS aus finanziellen Gründen zunächst aufgeschoben. Aus dem Gemeinderat kam schließlich der Impuls, das Thema wieder aufzugreifen. Gleichzeitig sei die Stadt beim Thema Bürgerbeteiligung aktiv geworden. Bernhard Papke von der Stadt Lahr berichtet von fundamentalen Verbesserungen: „Einige Gremien, die zuvor im Internet nicht präsent waren, sind nun sichtbar. Darüber hinaus haben jetzt Bürger und Räte viel umfassendere Informations- und Recherchemöglichkeiten. Fraktionsmitglieder haben außerdem die Möglichkeit, Tagesordnungen und Vorlagen von überall einzusehen.“ Nachteilig könnten sich lediglich die gestiegenen Ansprüche von Rat und Öffentlichkeit auswirken. Auch die bisherigen Kostenersparnisse seien in der Summe gering. Ein Vorschlag zur Einführung der papierlosen Gremienarbeit lasse jedoch zukünftig größere Einsparungen erwarten. In der Stadt Braunschweig ist man schon einen großen Schritt weiter. Wie Mathias Ney vom Referat Steuerungsdienst und Ratsangelegenheiten darlegt, betreibt die Stadt bereits seit dem Jahr 1996 ein Ratsinformationssystem. Zwar habe man mit diesem eine bessere Verwaltung der Informationen erreicht, eine papierlose Ratsarbeit sei mit dem alten System jedoch nicht realisierbar gewesen. Deshalb hat die Verwaltung vor zwei Jahren eine Neuvergabe beschlossen. Ney gibt an, dass die größten Herausforderungen bei der Einführung des neuen Systems in internenen organisatorischen Umstellungen lagen. Hierzu zählten etwa die flächendeckende Einführung einer elektronischen Unterschrift, die Mitzeichnung der Vorlagen im Rahmen des Workflows oder die Umstellung der hausinternen Papierverteiler auf elektronische Dokumente und Informationen. Darüber hinaus mussten rund 300 Mitarbeiter geschult werden. Derzeit prüfe man, ob eine Aktivierung der elektronischen Sitzungsgeldabrechnung und die damit verbundene Kopplung mit dem SAP-Finanzwesen sinnvoll ist.
Zum Positiven verändert
Ney: „Die Vorteile des neuen Systems liegen in einer besseren Informationsaufbereitung und besseren Darstellung von Tagesordnungspunkten, Protokollen und Ergebnissen. Die Informationsdichte und Informationsverfügbarkeit konnte auf sämtlichen Ebenen erhöht werden.“ Dadurch, dass sich die Mitarbeiter jetzt direkt aus dem System informieren können, seien die hausinternen Nachfragen zu Vorlagen oder zu Ergebnissen von Beschlüssen signifikant gesunken. „Durch die Reduzierung der Druckverteiler und die Einführung der elektronischen Unterschrift und Mitzeichnung konnten außerdem die Ablauf- und Entscheidungsprozesse beschleunigt werden“, so Ney. 90 Prozent der Mitglieder des Rates wurden im Februar 2016 mit Tablets ausgestattet. Diese Mitglieder erhalten keine Papierunterlagen mehr. Momentan werde sogar im Zuge des Gesamt-IT-Konzepts der Stadt eine Ausstattung der Fachbereichsleitungen innerhalb der Stadtverwaltung mit Tablets diskutiert. Ney abschließend: „Durch die Reduzierung der Druckverteiler konnten Kosten gespart werden. Ein Großteil des Nutzens des Systems ergibt sich aber durch die Veränderung der internen Ablaufprozesse und der besseren Bereitstellung von Informationen.“ „Für mich persönlich hat sich vor allem verändert, dass die digitalen Vorlagen besser gepflegt werden, da jetzt fast der gesamte Rat darauf zugreift, und nicht nur einige, die schon immer digital arbeiten wollten“, freut sich Jens-Wolfhard Schicke-Uffmann, Ratsmitglied und Fraktionsvorsitzender der Piratenpartei in Braunschweig. Lobenswert sei auch die Volltextsuche. Gleichzeitig kritisiert er, dass die Verwaltung zu großen Teilen noch mit Papierausdrucken arbeite und vermisst vor allem noch nicht umgesetzte Features wie die Übernahme von eigenen Anmerkungen in alle Ausschüsse, die gemeinsame Echtzeit-Bearbeitung von Anmerkungen in Vorlagen sowie die Anreicherung von Vorlagendokumenten mit relevanten kontextuellen Informationen. Weniger kritisch zeigt man sich in Darmstadt. Immerhin ist es hier dank Verschlagwortung und Recherchefunktion im Parlamentsinformationssystem für den Fraktionsvorsitzenden Oliver Stienen seit geraumer Zeit viel einfacher, neuen Stadtverordneten die Sachverhalte zu erklären. Deshalb stellt die digitale Ratsarbeit für den Grünen-Politiker ganz klar eine Bereicherung dar. Und auch SPD-Fraktionsmitglied Tim Huß, der ab und zu von Darmstadt nach Hamburg jettet, freut sich, von unterwegs aus auf alle Dokumente zugreifen zu können. Denn selbst wenn einmal kein WLAN-Netz vorhanden ist – wie beispielsweise im Sitzungssaal –, stehen Huß mit Thunderbird alle E-Mails einschließlich PDF-Anhang auch offline zur Verfügung.
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