Donnerstag, 26. Dezember 2024

Digitale RatsarbeitDie Zwischentöne fehlen

[08.04.2021] Im Zuge der Corona-Pandemie müssen Kommunen auf Online-Lösungen und digitale Prozesse setzen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Erfahrungsberichte aus Wertheim, Kaisersesch, Flensburg und dem Amt Südtondern zeigen Vor- und Nachteile der virtuellen Zusammenarbeit.
Wertheim: Öffentliche Bauausschusssitzung per Videokonferenz.

Wertheim: Öffentliche Bauausschusssitzung per Videokonferenz.

(Bildquelle: Stadt Wertheim)

Digitale Ratsarbeit ist ein Plus in Krisenzeiten. Das zeigen die praktischen Erfahrungen aus vier Kommunen, die während der Corona-Pandemie auf digitale Prozesse setzen konnten. Dennoch birgt die neue Art der Zusammenarbeit auch Hindernisse. „Ausgerechnet bei unserer ersten digitalen Ratssitzung am 8. Februar 2021 gab es enorme technische Probleme“, berichtet etwa Jürgen Graner, Stabsstellenleiter und Bürgerbeauftragter der Stadtverwaltung Wertheim. „Letztendlich haben sich die Ratsmitglieder aber professionell verhalten und Ruhe bewahrt und nach kurzer Unterbrechung ging es auch weiter.“
Die Kommune in Baden-Württemberg hatte bereits im März 2020 übergangsweise digitale Sitzungen eingeführt. Damit zählte sie landesweit zu den Vorreitern. Wurde die digitale Sitzung anfangs nur in Ausnahmefällen genutzt, fanden ab der zweiten Corona-Welle alle vorbereitenden Ausschusssitzungen per Videokonferenz statt. Die darauffolgenden Gemeinderatssitzungen konnten dadurch, unter Einhaltung der AHA-Regeln (Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen), kürzer und effizienter gestaltet werden. Am 8. Februar konnte dann die erste Sitzung digital stattfinden. Dazu hatte der Gemeinderat der Stadt Wertheim zum Jahresende 2020 die Hauptsatzung entsprechend geändert.

Nicht in der eigenen Hand

Die Sitzungen werden auch in den Sitzungssaal des Rathauses übertragen, sodass örtliche Medien und Bürger teilnehmen können. Im Einsatz ist die Software GoToMeeting von Anbieter LogMeIn. „Grundsätzlich ist es positiv, dass die baden-württembergische Landesregierung diese Form der Sitzungen durch die Modernisierung der Gemeindeordnung ermöglicht hat“, sagt Graner. „Gerade in der jetzigen Pandemie ist somit die Entscheidungsfähigkeit in der Gemeindepolitik sichergestellt, ohne unnötige Risiken einzugehen.“
Die Stabilität des Internets, Programmstörungen oder Fehler bei der Anwendung würden aber als Restrisiken bestehen bleiben, auch wenn die Sitzungen bisher mit wenigen Ausnahmen gut gelaufen seien. Die Abteilungen Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) und Zentrale Steuerung stehen den Gemeinderäten deshalb über die gesamte Sitzungszeit als Back-up zur Verfügung, um bei der Behebung von Fehlerquellen zu helfen. „Datenschutzbestimmungen bei der öffentlichen Übertragung und die Bedenken, dass bei nicht öffentlichen Sitzungen jemand Unbefugtes mithört und -schaut, geben außerdem Grund zur Sorge“, meint Graner. „Man hat es schlichtweg nicht in der eigenen Hand.“

Anfängliche Bedenken

Auf die Software Zoom als Unterstützung für die digitale Ratsarbeit setzt die Stadt Flensburg in Schleswig-Holstein. Auch hier steht das Thema Sicherheit im Fokus. Nach Erfahrungen mit anderen Systemen hatte sich Zoom dort insbesondere in der ersten Lockdown-Phase des Jahres 2020 als eine verlässliche und benutzerfreundliche Lösung mit hoher Konferenzqualität gezeigt – trotz anfänglicher Bedenken. Denn im Zuge des frühen Einsatzes und den damit in Verbindung stehenden Prüfungen sind in Flensburg nahezu täglich neue Fragestellungen und Kritiken zu Zoom aufgekommen, welche die Stadt regelmäßig aufgegriffen hat. Christian Reimer von der Stabsstelle Pressearbeit der Stadt Flensburg berichtet: „In der Betrachtung über den Zeitverlauf bis heute konnten wir feststellen, dass Zoom sehr schnell auf Anfragen reagiert und entsprechende technische Lösungen bereitgestellt hat. Nach dem derzeitigen Stand ist die Verwaltung zuversichtlich, dass alle bisher diskutierten Sicherheitsfragen zu Zoom aufgelöst werden können.“

Übertragung via Live-Stream

Die erste digitale Sitzung über die Videokonferenzlösung hat in Flensburg am 14. Januar 2021 stattgefunden, seitdem folgten weitere 15 Sitzungen, die weitgehend reibungslos verliefen. Für Abstimmungen wurde ein System mit grünen (Ja), roten (Nein) und weißen (Enthaltung) Stimmkarten eingeführt, die für die Sitzungsleitung gut erkennbar und eindeutig auszuzählen sind.
Nach einer Eingewöhnungsphase, gestaltet sich der Sitzungsbetrieb bisher zur Zufriedenheit aller Teilnehmenden. Da die Einführung des digitalen Sitzungsbetriebs auf mehrheitlichen politischen Wunsch hin erfolgt ist, herrscht bei den Nutzern große Akzeptanz. „Auch die Öffentlichkeit, welche die Sitzungen über einen Live-Stream auf der Homepage der Stadt oder im Offenen Kanal Flensburg verfolgen kann, nimmt das Angebot bisweilen sehr gut an“, sagt Christian Reimer. „Vor allem Ausschusssitzungen finden auf diesem Weg viel mehr öffentliches Interesse. In der letzten Sitzung des Hauptausschusses wurden über die gesamte Sitzungsdauer hinweg 125 Zuschauer registriert.“
Auch die Gremienarbeit der Verbandsgemeinde Kaisersesch in Rheinland-Pfalz ist durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie zunehmend digitaler geworden. Nach einer entsprechenden Änderung der Gemeindeordnung (§ 35 Abs. 3 GemO) werden Video- und Telefonkonferenzen genutzt, um Umlaufverfahren und Sitzungen abzuhalten. Die Gemeinden und Gremien können so ohne Präsenzsitzung Beschlüsse fassen und Projekte trotz Pandemie weiterentwickeln.

Potenzial nicht ausgeschöpft

Dazu ist vor allem der Einsatz des Ratsinformationssystems (RIS) gestärkt worden, da Abstimmungen in Form eines Vorverfahrens oder über einzelne Beratungspunkte nun digital erfolgen können. Das eigens entwickelte Zusatzmodul des Sitzungsdienstprogramms more! rubin ergänzt die digitale Gremienarbeit an dieser Stelle. Das Potenzial für weitere Erleichterungen ist damit jedoch noch lange nicht erschöpft. „Wir müssen nur offen für Veränderungen sein und unsere Mandatsträger und Mitarbeiter in die Entwicklung der Lösungen einbeziehen“, erklärt Finja Brück, zuständig für Kommunale Angelegenheiten in der Verbandsgemeindeverwaltung Kaisersesch.
Nicht nur das professionelle Workflow-Management von more! rubin, sondern auch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Lösung, welche die Kommune aktiv unterstützt, sind wichtige Komponenten für die reibungslose Gremienarbeit in der Verbandsgemeinde Kaisersesch. „Schon lange vor der Pandemie hatten wir mit der papierlosen und damit teilweise auch kontaktlosen Ratsarbeit begonnen. Durch die jahrelange Nutzung des Sitzungsdienstprogramms ist die Handhabung von Neuheiten vergleichsweise einfach“, berichtet Brück.

Entlastung der Mitarbeiter

Die Erweiterung des bestehenden Programms in Form eines Zusatzmoduls könne daher schnell in die tägliche Arbeit sowie in die Gremienarbeit eingefügt werden, ohne weitreichende Umstellungen vornehmen zu müssen. Ein weiterer Vorteil sei, dass die Ratsmitglieder bereits über Zugangsdaten für das Ratsinformationssystem verfügen und der Wechsel in eine digitale Abstimmung mit wenigen Schritten erfolgen kann. Finja Brück ist überzeugt: „Die Entlastung der Mitarbeiter und der mittlerweile selbstverständliche Umgang vieler Ratsmitglieder mit dem Ratsinformationssystem oder der DiPolis-App haben gerade in Zeiten der Pandemie gezeigt, dass digitale Lösungen einen großen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Gremienarbeit bieten.“
Ähnlich etabliert ist die digitale Ratsarbeit im Amt Südtondern in Schleswig-Holstein, das aus 30 Gemeinden, sieben Zweckverbänden und rund 170 Gremien besteht. In der Stadt Niebüll, dem Verwaltungssitz des Amtes, erfolgt die Gremienarbeit seit Mai 2020 komplett papierlos. Im Einsatz sind das flächendeckend genutzte Dokumenten-Management-System (DMS) regisafe, der Sitzungsdienst KommunalPLUS Sitzung und das vollintegrierte Ratsinformationssystem.
Frerk Matthiesen, Leiter des Büros des Amtsdirektors im Amt Südtondern, erklärt: „Bislang gibt es dazu nur gutes Feedback. Selbst der umfangreiche Haushalt 2021, bei dem pro Exemplar Druckkosten in Höhe von rund 50 Euro anfallen, ist nur noch vereinzelt in Papierform gewünscht worden. Die Lösung Regisafe Ratsinfo ermöglicht es, aus dem bereits vorhandenen DMS heraus alles sozusagen aus einem Guss zu bearbeiten.“ Aufseiten der Hardware wurden iPads und iPencils beschafft, zudem musste das WLAN verbessert werden. Einige Mitarbeiter nutzen außerdem die Regisafe RIS-Portal-App, da die Anwendung das Arbeiten im Offline-Modus möglich macht.

Geteilte Meinungen

Dass die digitale Ratsarbeit, wie anfangs angenommen, weniger Zeit in Anspruch nimmt, gilt laut Matthiesen nur bedingt – gerade wenn technische Probleme auftreten. Auch die Feinabstimmung von Tagesordnung und Abläufen sei per Video- oder Telefonkonferenz für viele Mitarbeiter schwieriger als im direkten Miteinander. „Digital fehlen manchmal Zwischentöne und Stimmungen, um Dinge einordnen zu können – das gilt aber für den gesamten Homeoffice-Betrieb“, kritisiert der Verwaltungsmitarbeiter. Für die digitale Ratsarbeit spreche aber, dass alles aus dem Homeoffice machbar und schnelles Reagieren möglich sei.
Während das Amt Südtondern und die Verbandsgemeinde Kaisersesch auf bereits etablierte Lösungen für die digitale Ratsarbeit setzen konnten und diese weiterhin nutzen werden, galt es für die Städte Wertheim mit GoToMeeting und Flensburg mit Zoom auf die Schnelle digitale Lösungen zu finden. Zur Frage, ob die virtuelle Zusammenarbeit nach der Corona-Pandemie bestehen bleibt, gibt es dort geteilte Meinungen.

Referenten zuschalten

„Da der Gesetzgeber den Einsatz von digitalen Sitzungen nur für besondere Ausnahmesituationen erlaubt, scheint dies eher unwahrscheinlich für die Stadt Flensburg“, erklärt Christian Reimer. Sitzungen von begleitenden Gremien wie Beiräten, die nicht den strengen Regeln der Gemeindeordnung unterliegen und zu denen externe Mitglieder anreisen, könnten jedoch auch in Zukunft als Videokonferenzen stattfinden.
Dem stimmt Jürgen Graner aus Wertheim zu: „Vorstellbar ist, dass externe Referenten mit langen Anfahrtswegen sich digital zu Sitzungen hinzuschalten. Das wäre auch gut für unsere Umwelt.“ Generell sei jedoch davon auszugehen, dass die virtuellen Ratssitzungen schnell an Bedeutung verlieren werden. „Nirgendwo sind persönliche Begegnungen so wichtig wie in einer Kommune“, betont Graner. „Insbesondere Gemeinderatssitzung leben vom persönlichen und direkten und auch emotionalen Austausch. Die Sitzungsdynamik hat eine ganz andere Qualität. Von daher ist zu erwarten, dass es kaum jemanden geben wird, der das digitale Sitzungsformat vermisst.“

Corinna Heinicke




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