Samstag, 19. April 2025

InterviewErweiterung und Stärkung

[16.05.2012] Jedes Ministerium sucht sich zurzeit seine eigene Beteiligungsspielwiese, meint Roger Kehle, Präsident des Gemeindetages Baden-Württemberg, und erläutert, was die Kommunen beim Thema Bürgerbeteiligung von der Landesregierung erwarten.
Roger Kehle

Roger Kehle

(Bildquelle: Gemeindetag Baden-Württemberg)

Herr Kehle, die baden-württembergische Landesregierung hat ihren Fahrplan Bürgerbeteiligung 2012 vorgestellt. Was erhoffen sich die Kommunen vom Land?

Von der Landesregierung erwarte ich erstens, dass sie die Grundregeln und Rahmenbedingungen des kommunalen Selbstverwaltungsrechts achtet und zweitens, dass sie die Handlungsfähigkeit der Städte und Gemeinden durch ihre gewählten Organe voll gewährleistet. Bürgerbeteiligung ist nicht Ersatz oder Alternative zu Entscheidungen demokratisch gewählter Organe, sondern Erweiterung und Stärkung repräsentativer Demokratie. Das bedeutet auch: Die Regeln des Beteiligungsprozesses können nur vom Gemeinderat festgelegt und die Ergebnisse allein durch einen Gemeinderatsbeschluss politisch und rechtlich legitimiert werden. Daran darf die Landesregierung keine Zweifel lassen. Beteiligungsdefizite gibt es in Planfeststellungsverfahren des Landes und des Bundes. Die Städte und Gemeinden erwarten daher, dass eine frühzeitige Bürgerbeteiligung im Landesplanungsgesetz, im Landesverwaltungsverfahrensgesetz und im Immissionsschutzrecht verankert wird.

„Die Bürgerbeteiligung in Städten und Gemeinden lebt.“

Da Bürgerbeteiligung immer auch in den kommunalen Bereich hineinwirkt, muss das weitere Verfahren mit den kommunalen Landesverbänden abgestimmt werden. Dazu gehört auch die Frage, wer die Kosten trägt. Für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene sind keine gesetzlichen Änderungen notwendig. Dies gilt auch für den so genannten Negativkatalog. Er muss Bestand haben und sollte nicht aufgebohrt werden, weil die Gemeinderäte ihre Budget- und Planungsverantwortung sonst nicht mehr wahrnehmen können. Die Zahl der Bürgerbegehren und -entscheide im Land zeigt, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen für Bürger nicht unüberwindbar sind. Das von der Verfassung vorgegebene austarierte Verhältnis zwischen legitimierten Gemeindeorganen und der Bürgerschaft erfordert ein Zustimmungsquorum für Bürgerentscheide, wie es derzeit besteht (25 Prozent). Bei Entscheidungen durch die Bürgerschaft bedarf es einer tragfähigen Mehrheit. Diese muss so gestaltet sein, dass Anträge, die keinen Rückhalt in der Bevölkerung haben, auch nicht zum Zug kommen. Demokratie bedeutet Mehrheitsentscheidungen. Wer die Ausweitung der Möglichkeiten von Bür-gerbegehren und -entscheid anstrebt, muss für eine ausreichende demokratische Legitimation sorgen. Ohne Quoren geht das nicht.

Sie hatten auch Kritik an dem Fahrplan geäußert. Worauf bezieht sich diese?

Das Land sollte respektieren, dass auf kommunaler Ebene kein Beteiligungsvakuum herrscht, das durch Aktivitäten und Vorgaben des Landes gefüllt werden müsste. Das Gegenteil ist doch Realität. Die Bürgerbeteiligung in Städten und Gemeinden lebt. Sie lernen miteinander und voneinander. Nachhilfe vom Land, das hier selbst Defizite aufzuarbeiten hat, brauchen sie nicht. Lebendige Beteiligung führt zu hohem Engagement der Bürger, von denen 42 Prozent auf kommunaler Ebene ehrenamtlich tätig sind. Die Quote ist in keinem Bundesland so hoch wie in Baden-Württemberg. Jedes Ministerium sucht sich zurzeit seine eigene Beteiligungsspielwiese. So geht das nicht. Wir fordern vom Land ein mit uns abgestimmtes Gesamtkonzept für die Fortentwicklung der Bürgerbeteiligung. Ohne ein Gesamtkonzept reden wir aneinander vorbei und kommen nicht voran. Wir wollen wissen, wohin die Landesregierung will. Dann können wir die kommunalen Erfahrungen einbringen.

Welche Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene würden Sie als besonders beispielhaft hervorheben und warum?

Der Gemeindetag hat 2011 den aktuellen Stand der Bürgerbeteiligung in Städten und Gemeinden erhoben und dabei viele Beispiele zusammengetragen. Form und Verfahren der Bürgerbeteiligung müssen jeweils auf die individuelle Situation, die Themen und Projekte ausgerichtet sein. Was für die eine Gemeinde gut ist, passt für die andere vielleicht nicht. Der Gemeindetag hat einen bunten Strauß von Beispielen gelungener Bürgerbeteiligungen aus großen und kleinen Kommunen zusammengetragen und für den Erfahrungsaustausch zur Verfügung gestellt.

Worauf sollten Kommunen bei Bürgerbeteiligungsprojekten achten?

Eine Expertengruppe des Gemeindetages hat ein Strategiepapier für Mitgliedsstädte und -gemeinden zusammengestellt, das die Positionen zur Bürgerbeteiligung klärt und die Erfolgsfaktoren für Bürgerbeteiligung aufzeigt. Dazu gehören insbesondere klare und transparente Regeln für den Beteiligungsprozess, eine frühzeitige Einbindung der Zielgruppen beziehungsweise der Öffentlichkeit, Nachhaltigkeit der Bürgerbeteiligung über die gesamte Projektdauer hinweg, ein möglichst breiter, rechtlich und politisch realisierbarer Entscheidungsspielraum sowie eine Einigung über den Verfahrensablauf. Wichtig sind außerdem ein strukturiertes Verfahren mit aufeinander abgestimmten Schritten, zum Projekt und zur Gemeinde passende, attraktive Beteiligungsformate, die zur Mitgestaltung einladen und ein offenes Klima des Meinungsaustausches schaffen.

Inwiefern kann die IT Beteiligungsverfahren unterstützen?

Auch Bürgerbeteiligung findet heute über das Internet statt. Eine attraktive, informative Website ist die Basis. Facebook und Twitter können eine Ergänzung für bestimmte Zielgruppen sein. Social Media sind aber nicht die Universallösung. Man muss das kritisch beobachten. Nicht vergessen werden darf, dass die Amtsblätter immer noch eine beliebte Informationsquelle darstellen. Und das persönliche Gespräch ist nicht zu ersetzen. Das ist ja unsere Stärke: nah dran zu sein an den Bürgern und ihren Problemen.

Baden-Württemberg soll nach dem Willen der Landesregierung zu einem Musterland für Bürgerbeteiligung werden. Welche Maßnahmen sind hierfür Ihrer Meinung nach noch zu ergreifen?

Baden-Württemberg ist zumindest auf kommunaler Ebene bereits ein Musterland für Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement. Ausgebaut werden muss die Bürgerbeteiligung in den großen staatlichen Planfeststellungsverfahren, bei denen es oft um private Infrastrukturprojekte geht. Hier brauchen wir eine offene Bürgerbeteiligung, die sich nicht nur an Behörden und Verbände richtet.





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