Samstag, 15. März 2025

BürgerbeteiligungFlucht ins Netz?

[02.03.2015] Der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung ertönt deutschlandweit. Das Problem: Die Bürger haben eher ihre eigenen Interessen im Sinn als das Gemeinwohl. Die Kommunen sind darauf nicht vorbereitet – und Online-Beteiligungsangebote sind nicht die Lösung.
Hält E-Partizipation die Meinung des Bürgers auf Schlagdistanz?

Hält E-Partizipation die Meinung des Bürgers auf Schlagdistanz?

(Bildquelle: creativ collection Verlag)

In den Kommunen herrscht Unruhe. Die politische Kultur ist dabei, sich grundlegend zu wandeln. Die Unruhe geht von den Bürgern aus, aber sie erfasst die Verwaltungen und Gemeinderäte und wird von diesen wieder an die Bürgerschaft zurückgegeben. Sie verunsichert die Parteien und die kommunalen Dienstleister. Alle miteinander reagieren alarmiert, irritiert und bisweilen hysterisch. Seit zehn Jahren wird zunehmend deutlich, wie sehr die Bürgerschaft eine Mitsprache bei zentralen Debatten und Entscheidungen in der Stadt einfordert. Der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung ertönt heute in Deutschland flächendeckend, parteiunabhängig und thematisch offen. Eine zentrale Voraussetzung dieser Entwicklung auf der Seite der Bürgerschaften ist deren Bildungsentwicklung. Die in Sonntagsreden beschworene Wissensgesellschaft ist Teil der urbanen Realität geworden. Und sie ist folgenreich. Nicht nur hat sich die Zahl der gymnasialen Abschlüsse in den vergangenen 50 Jahren verzehnfacht: Weit mehr als jeder Zweite nutzt heute den Hochschulzugang. Auch die Informationsmedien sind exorbitant gewachsen. Jeder kann sich selbst eine Meinung bilden – und das nicht immer schlecht. Für Politikwissenschaftler ist klar, dass diese Entwicklung zum Verlust der Bindekraft von Institutionen führt. Parteien, Gewerkschaften und Vereine verlieren ihre orientierende Wirkung. Autoritäten verlieren ihre Stärke und Parlamente sowie Bürgermeister ihre Strahlkraft. Für autoritäre Familien und Strukturen kann das positive Auswirkungen haben. Aber die Menschen werden zu dem, was ihnen ihr kompetitiver Alltag abverlangt: Sie werden zu individualistischen Unternehmern ihres Selbst, sie organisieren auch in der Kommune ihre Interessen eher selbst- als gemeinwohlorientiert.

Stimme des Volkes

Die kommunalen Institutionen sind darauf nicht vorbereitet. Sie verlieren doch zugleich juristische Lenkungsfähigkeit an übergeordnete politische Instanzen. Sie sind finanziell zunehmend geschwächt und starken privaten Investoren sind sie eher ausgeliefert, als dass sie ihnen als Verhandlungspartner begegnen könnten. Die Stadtverwaltungen und die gewählten Gremien – das zeigen viele Umfragen – glauben selbst kaum an ihre Gestaltungskraft. Aus dieser Gemengelage entsteht ein neues urbanes Denken und eine neue Partizipationskultur, die noch nach neuen Akteuren und nach neuen Institutionen sucht. Erst kürzlich hat eine Studie deutlich gezeigt, dass auch in den Kommunen diese bürgerschaftliche Kraft gesehen und anerkannt wird – und Bürgermeister und Gemeinderäte trotz dieses Wissens nicht den Weg zu einer neuen Institutionalisierung gehen wollen. Drei Viertel der Bürger wollen mitbestimmen – und glauben, es zu können. Aber drei Viertel der Amtsträger trauen es ihnen nicht zu. Sie hoffen, auf ihrem Entscheidungsmonopol bestehen zu können. Sie wollen wohl den Machtverlust abwenden. Aber welche Macht? Die Institutionen haben zwar in mancherlei Hinsicht eine Monopolstellung, sind aber Scheinriesen: Die Macht ist aus diesem Monopol längst ausgewandert. Bürgerinitiativen können jedoch nicht einfach die neuen Akteure sein. Das Problem liegt tiefer. Wie zahlreiche Studien zur Wahlbeteiligung zeigen, gibt es eine zunehmende soziale Spaltung in der politischen Beteiligung. Während die ärmeren und weniger gebildeten Bevölkerungsgruppen zunehmend zum umfassenden Ausstieg aus der politischen Beteiligung neigen, partizipieren die mittelständischen und besser gebildeten Gruppen fast ungebrochen. Für die in den meisten Kommunen üblichen informellen Beteiligungsverfahren durch Bürgerversammlungen und Informationsveranstaltungen verschärft sich somit das Problem. Denn hier sind Zeit- und Bildungsressourcen sowie Eloquenz und Selbstbewusstsein die entscheidenden Faktoren. Eine rein informelle Bürgerbeteiligung verschärft die soziale Exklusion.

Zufällige Beteiligung

Es gibt aber hinreichend erprobte Verfahren der aleatorischen Bürgerbeteiligung, die diesen Mangel ausgleichen. Hier werden Bürger einer Kommune vom Einwohnermeldeamt nach dem Zufallsverfahren zur Entscheidungsfindung eingeladen. Der Weg wird ihnen durch Angebote rund um Kinderbetreuung, Fahrdienste, Dolmetscherhilfe oder Aufwandsentschädigung leicht gemacht. Diese Verfahren gewährleisten häufig einen repräsentativeren Bevölkerungsdurchschnitt als er in Wahlen erreicht wird. Diese aleatorischen Gruppen werden an mehreren Terminen mit Experten und Interessenten der urbanen Planung und Entwicklung zusammengebracht. Verwaltung, Parteien, Techniker, Architekten, Ökonomen und Bürgerinitiativen schildern ihre jeweilige Sicht. Das Meinungsbild, das in dieser zufällig ausgewählten Gruppe letztlich entsteht, wird in den Kommunen in aller Regel als hoch legitim wahrgenommen. Es muss nicht verbindlich sein, dient jedoch als Maßstab. So kann es auch als Vorstufe eines Bürgerbegehrens verstanden und dann in einem Bürgerentscheid zur Wahl gestellt werden. So verbinden sich aktive Bürgerschaft und fortschreitende Demokratisierung. Eher als Gegenbeispiel muss freilich der in manchen Kommunen gewählte Weg über die Online-Beteiligung verstanden werden. Diese „Flucht ins Netz“ ist für die Verwaltungen unverbindlich und preisgünstig. Sie hält die Partizipation zugleich auf deutlicher Schlagdistanz und bewahrt das hohl gewordene institutionelle Monopol. Beteiligung entsteht so nicht. Die Gruppe derer, die das Netz interaktiv zum Diskurs nutzt, ist nach wie vor eng begrenzt und sozial extrem homogen. Aus der Vielzahl der Bürgerbeteiligungsverfahren wissen wir zudem, dass den Kommunen in der Planung politische Verständigung und Kompromissbildung fehlen. Hierfür sind aber unmittelbarer sozialer Kontakt, tatsächliche Augenhöhe und persönliches Gegenüber unabdingbar. Die fehlende Sozialität, die die negative Seite der Individualisierung und eher ein Handikap der neuen Partizipationskultur ist, drückt sich in der Netzkommunikation noch einmal deutlich aus. E-Government ist als Informationsportal geeignet. Aber Shitstorms, Blogs und Online-Beteiligung als Medium der politischen Debatte verschärfen die Konflikte – wie traditionelle Leserbriefspalten – ohne Hinweis auf Kompromissbildung. Online-Beteiligung ist hier Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Professor Dr. Hans J. Lietzmann ist Leiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung/Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal.




Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: E-Partizipation
Screenshot von der Online-Beteiligung zum Parkraumkonzept in Wuppertal. Zu sehen ist die digitale Stadtkarte mit zahlreichen Hinweisen und Ideen.

Wuppertal: Via Crowdmapping zum Parkraumkonzept

[11.03.2025] Mit umfangreicher Bürgerbeteiligung soll ein neues Parkraumkonzept für zwei Wuppertaler Stadtteile erarbeitet werden. Den Auftakt bildet ein digitales Crowdmapping. mehr...

Fünf Personen stehen nebeneinander vor einem Whiteboard, auf dem eine Präsentation zur Entwicklergemeinschaft eingeblendet ist.

Modellprojekte Smart Cities: Werkzeugkasten für Bürgerbeteiligung

[11.03.2025] Einen Werkzeugkasten für die digitale Bürgerbeteiligung wollen die Smart-City-Modellprojekte Bamberg, Hildesheim, Lübeck und Kiel entwickeln. Langfristiges Ziel ist unter anderem ein Beteiligungsökosystem, in dem bereits existierende Partizipationstools per Schnittstellen miteinander verbunden sind. mehr...

Plastikflaschen liegen auf einem Haufen in einem Wald auf dem Boden.

Kaiserslautern: Jetzt mit Mängelmelder

[07.03.2025] Für Schadensmeldungen, Anregungen oder Kritik bietet die Stadt Kaiserslautern jetzt einen Mängelmelder an. Zu finden ist er auf der städtischen Website. Durch das Anklicken von Oberbegriffen wird das Anliegen direkt an die zuständige Stelle in der Verwaltung weitergeleitet. mehr...

Eine Frau im Rollstuhl hält ein Smartphone in der Hand.

Frankfurt am Main: Per Mängelmelder auf Barrieren hinweisen

[03.03.2025] Der digitale Mängelmelder der Stadt Frankfurt am Main ist um die Kategorie Barrierefreiheit erweitert worden. Die Stabsstelle Inklusion nimmt die Hinweise entgegen und leitet sie an die zuständigen Stellen weiter. mehr...

Halle (Saale): Mängelmelder optimiert

[25.02.2025] Mit der optimierten Version ihres Hinweis- und Mängelmelders „Sag’s uns einfach“ will die Stadt Halle (Saale) ihren Bürgerinnen und Bürgern einen noch besseren Draht zur Stadtverwaltung bieten. mehr...

Bonn: Intensives Jahr für die Bürgerbeteiligung

[21.02.2025] Die E-Partizipationsplattform der Stadt Bonn konnte im vergangenen Jahr eine Rekordnutzung verzeichnen. Der Anfang 2024 gestartete Beirat für Kinder- und Jugendbeteiligung trägt zudem dazu bei, Mitwirkungsformate jugendgerecht zu gestalten. mehr...

Vektorgrafik; ein großes Klemmbrett mit abgehakten und angekreuzten Textzeilen, ragt aus einem großen Bildschirm heraus, davor kleine menschliche Figuren, eine setzt mit einem großen Stift ein Kreis auf dem Fragebogen.

Digitalisierungsstrategie: Aachen fragt nach

[21.02.2025] Die Digitale Strategie für die Stadt Aachen soll mithilfe der Bürger fortgeschrieben werden. Online können sie die bislang erreichten Fortschritte der Digitalisierung bewerten und Impulse für die weiteren Maßnahmen setzen. mehr...

Konstituierende Sitzung des Beteiligungsberates im kleinen Sitzungssaal im Stuttgarter Rathaus

Stuttgart: Neuer Beteiligungsbeirat konstituiert

[18.02.2025] In Stuttgart hat sich ein neuer Beteiligungsbeirat konstituiert. Bei der ersten Sitzung stand unter anderem der Relaunch des städtischen Beteiligungsportals auf der Agenda. mehr...

Brandenburger Tor am Luisenplatz in Potsdam,

Potsdam: Neue Beteiligungsplattform geht online

[24.01.2025] Auf der neuen Plattform Mitgestalten.Potsdam.de bündelt die brandenburgische Landeshauptstadt ihre Beteiligungsangebote jetzt auf einer Seite. Auch die Mängelmelderfunktion Maerker wurde integriert. mehr...

Hamms Oberbürgermeister Marc Herter; Anna Quos und Dennis Ritter von der Stabsstelle Bürgerkommunikation
 halten eine Auszeichnung für Sags Hamm in die Kamera

Hamm: Erwartungen übertroffen

[23.01.2025] Vor rund einem Jahr hat die Stadt Hamm ihr neues Anliegenmanagement eingeführt. Die bisherige Bilanz für „Sags Hamm“ fällt positiv aus. mehr...

Schriftzug zum 8. Stuttgarter Bürgerhaushalt

Stuttgart: Bürgerhaushalt gestartet

[13.01.2025] In Stuttgart sind wieder Ideen zur städtischen Finanzplanung gefragt. Der Bürgerhaushalt geht in seine achte Runde. Bis 23. Januar können Vorschläge eingereicht werden. mehr...

Verantwortliche der Stadt Hamm halten die Auszeichnung Mängelmelder Profi in die Kamera

wer denkt was: Mängelmelder-Profis gekürt

[20.12.2024] Gelsenkirchen, Hamm und Ludwigsburg sind Mängelmelder-Profis 2024. Der Award für vorbildliches Anliegenmanagement wird von dem Unternehmen wer denkt was vergeben. mehr...

Screenshot der Online-Beteiligungsplattform, die eine Landkarte von Castrop-Rauxel zeigt.

Castrop-Rauxel: Umstieg auf Beteiligung NRW

[02.12.2024] Um den Bürgern die Teilnahme an öffentlichen Projekten, Diskussionen und Abstimmungen zu erleichtern, nutzt Castrop-Rauxel ab sofort die landesweite Plattform Beteiligung NRW. Sie sei komfortabler und intuitiver zu bedienen als die bislang eingesetzte Lösung. mehr...

VR-Brille liegt auf einer Satellitenaufnahme einer Stadt.
bericht

Kempten: Innovatives Bürgerforum

[28.11.2024] Über das Digitale Bürgerforum können Kemptenerinnen und Kemptener an städtischen Projekten teilnehmen. Der Digitale Zwilling dient dabei als Unterstützung bei georeferenzierten Beteiligungen sowie zahlreichen Stadtentwicklungsthemen. mehr...

Ein Mann und eine Frau stehen vo einem großen Bilschirm und schauen in die Kamera.

AKDB/CrowdInsights: Gebündelte Kräfte

[20.11.2024] CrowdInsights wird eine Tochtergesellschaft der AKDB. Damit will der kommunale IT-Dienstleister das Angebot zur Bürgerbeteiligung ausbauen. Vorgesehen ist unter anderem, die Beteiligungsplattform an kommunale Fachverfahren anzubinden – etwa um Bürgerhaushalte effizienter zu gestalten. mehr...