Sonntag, 22. Dezember 2024

KommentarMit Stempel und Siegel

[10.06.2024] Im Zentrum der Verwaltungsdigitalisierung muss der Online-Ausweis stehen, als Dreh- und Angelpunkt der Bürger-Behörden-Kommunikation. Seit 13 Jahren wird die Bedeutung des digitalen Dokuments heruntergespielt und seine Handhabung regelrecht konterkariert.
Behördliche Insignien wie Stempel und Klebesiegel gehören ins Bürokratiemuseum.

Behördliche Insignien wie Stempel und Klebesiegel gehören ins Bürokratiemuseum.

(Bildquelle: stock.adobe.com/sinseeho)

Auf unabsehbare Zeit wird es bei der deutschen Verwaltungsdoppelstruktur bleiben: den Rathäusern und Bürgerämtern vor Ort und dem annoncierten digitalen Zugang zu Hause. Das liegt nicht allein am Schneckentempo bei der Digitalisierung, die ja vielerorts über den Status eines Versprechens nicht hinausgekommen ist. Vielmehr hat es vor allem mit dem viel zu komplizierten Prozedere bei digitalen Verwaltungsabläufen zu tun. Angeblich soll die Nutzerorientierung eine der wichtigsten Maßgaben des Onlinezugangsgesetzes sein. Tatsächlich werden aber meist schon im Analogen unnötig komplizierte Verwaltungsvorgänge eins zu eins ins Digitale übertragen. Niemand scheint sich Gedanken darüber machen zu wollen, ob und wie sich eine aufgeplusterte Bürokratie mit ihren starren Routinen verschlanken lässt. Der Autor dieser Zeilen hatte 2015 in Berlin einen Pkw digital abgemeldet und sich sehr darüber gefreut, wie gut es funktionierte. Für ihn war klar: dies könnte die Killerapplikation für den digitalen Ausweis werden. Damals befand sich das internetbasierte Zulassungsverfahren i-Kfz in der zweiten Stufe; man konnte einen Pkw erstmals online abmelden oder außer Betrieb setzen. Voraussetzung war, dass die Kennzeichen die notwendigen Siegel und die Fahrzeugpapiere grüne Rubbelflächen vorwiesen. Zusätzlich benötigte man ein damals noch nPA (neuer Personalausweis) genanntes Ausweisdokument mit aktivierter elektronischer ID und persönlicher PIN sowie ein behördlich zertifiziertes NFC-Lesegerät. Und etwas Geduld.

Prozedere wird immer komplizierter

Bei der Digitalisierung des Kfz-Verfahrens wurde offenbar peinlich genau darauf geachtet, möglichst alle behördlichen Vorgänge, die in den Amtstuben händisch verrichtet werden, digital nachzuempfinden. Dem Ausfräsen des Dienstsiegels auf der Zulassungsstelle entspricht das Zerkratzen des Siegels mit einer Zwei-Euro-Münze, um einen darunter befindlichen Code freizulegen. Und der Anierung der Gültigkeit der Fahrzeugpapiere per Amtsstempel kommt das Wegrubbeln der Sicherheitscodes am heimischen Schreibtisch nahe. Am Ende hatte man vier alphanumerische Codes vor sich liegen, die in der richtigen Reihenfolge im Online-Verfahren einzutragen waren. Im Jahre 2024 hat sich an diesem Vorgehen wenig geändert, beziehungsweise: Es ist noch komplizierter geworden. Wer sich an die Diskussionen um die NFC-Lesegeräte erinnert, mit denen anfangs der Personalausweis nur ausgelesen werden konnte, dem wird die Ausweis-App als Glücksfall der neueren Technikgeschichte erscheinen. Mit der heutigen Ausweis-App wird nun das eigene Smartphone zum Lese- und Verifizierungsgerät. Allerdings muss die App auf dem neuesten Stand sein – nicht nur auf dem Smartphone, sondern auch auf dem Computer, sofern man diesen für das Online-Antragsverfahren nutzen möchte. Zudem müssen sich beide Geräte zwingend im selben WLAN-Netz befinden.

Bürokratie wird ins Digitale übersetzt

Doch damit nicht genug: Auf einmal kommt die BundID ins Spiel und wird für das weitere Vorgehen im Antragsprozess notwendig. Dafür hat man sich auf der entsprechenden Website per Online-Ausweis oder Elster-Steuerzertifikat zu registrieren. Meldet man sich jedoch mit Elster an, funktioniert die Pkw-Zulassung nicht. Im BundID-Konto muss dann zusätzlich noch der Online-Ausweis hinterlegt werden. Was hat die BundID überhaupt mit der Pkw-Zulassung zu tun? Soll sie das schwergängige Rathaustor simulieren, das der Bürgerbittsteller erst öffnen muss, bevor er mit seinem Online-Anliegen zum Sachbearbeitenden vorgelassen wird? Oder sollen einfach Fallzahlen generiert werden, wie weiland bei der Bafög-Einmalzahlung? Wer immer sich diese Hürde ausgedacht hat, sie wirft allenfalls ein Schlaglicht auf einen abstrus komplizierten Prozess. Denn im Grunde könnte man gut auf Dienstsiegel und TÜV-Prüfplaketten auf den Nummernschildern verzichten. Ist nicht mit der Pkw-Anmeldung der Halter zweifelsfrei von einer Behörde identifiziert? Alle sich daraus ableitenden Daten, Fristen und Pflichten liegen im Zentralregister vor, auf das Strafverfolgungsbehörden notfalls elektronischen Zugriff haben. Führt der Fahrzeughalter sein Gefährt zur Hauptuntersuchung vor, wird die neue Gültigkeit elektronisch nachgetragen. Der gesamte Anmeldeprozess könnte also deutlich von behördlichen Routinen entschlackt werden, wenn dem Online-Ausweis nur zugetraut würde, was er kann: die analoge Identität des Bürgers in die digitale Welt übertragen. Behördliche Insignien wie Stempel, Wachspapier und Klebesiegel gehören hingegen ins Bürokratiemuseum.

Neue eID-PIN gibt es nur auf dem Amt

Leider ist mit der Geschichte des Online-Ausweises eine anhaltende Desavouierung dieser an sich sehr guten Technologie verbunden. Anfangs wurde einem auf dem Bürgeramt noch aktiv vom Einschalten der eID-Funktion abgeraten, bis 2017 der Gesetzgeber auf den Plan trat und dem Spuk der Wahlfreiheit ein Ende setzte. Zur Corona-Zeit gab es in manchen Bundesländern auf einmal die Möglichkeit, handgescannte Zulassungspapiere im Antragsprozess hochzuladen, wodurch diese authentifizierende Merkmale erhielten, die sie normalerweise nicht besitzen. Und heute treten vermehrt alternative Identitätsverfahren auf den Plan und nehmen dem Online-Ausweis zusätzlich die Chance, sich zu etablieren. 70 Millionen Online-Ausweise sollen inzwischen im Umlauf sein. Fragt man im Freundes- und Bekanntenkreis herum, hat ihn kaum jemand einmal digital benutzt. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was in ihrem Personalausweis alles steckt. Auf eine konzertierte Marketing-Kampagne in Funk und Fernsehen wartet man seit 13 Jahren vergeblich. Stattdessen mutet man aktuell den Bürgern zu, sollten sie ihre eID-PIN verloren haben, wieder persönlich auf dem Amt zu erscheinen. Bislang konnte die PIN online zurückgesetzt und eine neue beantragt werden. Deren postalischer Versand fiel allerdings dem Spardiktat zum Opfer. In Zeiten, wo auf jeder Plattform ein vergessenes Passwort online wieder zurückgesetzt werden kann, kommt diese Aktion einem Schildbürgerstreich gleich.

Potenzial wird nicht ausgeschöpft

Freilich braucht es nicht für jeden digitalen Nachweis das hohe Vertrauensniveau des Online-Ausweises. Doch am Ende trägt man dann viele unterschiedliche IDs im digitalen Wallet mit sich herum, anstatt sich auf eine Technologie festzulegen, den Online-Ausweis, und diesen für alle denkbaren Szenarien zu nutzen – von der Zugangskontrolle in der Sporthalle bis zum aufwendigen Verwaltungsverfahren. Klar: bei einem fünfstelligen Betrag für die Einbindung in die Ausweisinfrastruktur wird sich das nicht jeder Veranstalter leisten können. Doch wenn es nicht gelingt, die Nutzung des Online-Ausweises flächendeckend in vielen Situationen einzuüben, wird auch dieses Digitalprojekt von den Menschen nicht angenommen werden. Dem Autor gelang es übrigens nicht, seinen Pkw online anzumelden. Ein Rubbelcode war unleserlich. Dank der Zaubernummer 115 war jedoch – selbst in Berlin – ein Vororttermin auf der Zulassungsstelle am Folgetag zu ergattern, wo binnen einer halben Stunde alles über die Bühne ging – samt Behördensiegel und Wachspapier.

Helmut Merschmann




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