Donnerstag, 5. Dezember 2024

Digitaler ImpfnachweisReichlich Lücken im System

[12.05.2022] Der digitale Impfnachweis wurde in Deutschland mit allzu heißer Nadel gestrickt – und zeigt daher in puncto Sicherheit und Zuverlässigkeit erschreckend viele Mängel. Die Sicherheitslücken nachträglich zu stopfen, ist schwierig bis unmöglich.
Mit heißer Nadel gestrickt: der digitale Impfnachweis.

Mit heißer Nadel gestrickt: der digitale Impfnachweis.

(Bildquelle: janvier/stock.adobe.com)

Eigentlich kümmert sich Thomas Siebert bei der G DATA CyberDefense AG um die Entwicklung neuer Schutztechnologien für Computernetzwerke in Unternehmen und Behörden. Am Thema Corona und damit am digitalen Impfnachweis kam aber auch er nicht vorbei. Hier fielen ihm immer wieder einige lose Enden auf. Die erste Ungereimtheit zeigte sich im privaten Umfeld. Ein Bekannter hatte sich direkt nach der zweiten Impfung seinen QR-Code mit dem digitalen Impfnachweis in der Apotheke besorgt und eingescannt. Zu seiner und Sieberts Überraschung zeigte jede App, dass er vollständig geimpft sei. Dabei sollte der Impfstatus erst zwei Wochen nach der Impfung auf „vollständig geimpft“ umschalten. Ein genauerer Blick auf die Daten zeigte: Aus Versehen stand beim Datum der Zweitimpfung der Tag der Erstimpfung. Und die lag ja bereits deutlich mehr als zwei Wochen zurück.
Ein harmlos anmutender Fehler, der jedem passieren kann. Wer täglich so viele Impfnachweise erstellt, kann schon mal in der Zeile verrutschen. Aber hätte das System so etwas nicht automatisch anmahnen müssen, um eine Korrektur zu ermöglichen? Die Neugier war geweckt. Wenn ein harmloses Versehen bereits dazu führen kann, dass ein Mensch vorzeitig als geimpft gilt – was ist dann erst mit krimineller Energie möglich?

Mit heißer Nadel gestrickt

Und so begann eine Suche, die wenig Ermutigendes zutage fördern sollte. Ausgangsbasis war die Spezifikation der EU, die die technische Umsetzung vorgab. Nach einem umfassenden Blick in die Spezifikationen und die tatsächliche Umsetzung stand fest: Es mangelt dabei an allen Ecken und Enden. Vieles, was die Sicherheit und Zuverlässigkeit hätte erhöhen können, ist entweder ganz ausgeblieben oder wurde nur halbherzig umgesetzt. Vieles deutet darauf hin, dass der digitale Impfnachweis in Deutschland mit heißer Nadel gestrickt wurde, wohl nicht zuletzt durch politischen Druck.
Da ist zum einen die Ausstellung der Impfnachweise und die Art und Weise, wie diese digital signiert sind. In Deutschland werden alle Impfnachweise in letzter Konsequenz vom Robert Koch-Institut (RKI) ausgestellt. Für die Ausgabe und Signierung sind unter anderem die Apotheken zuständig. Der Deutsche Apothekenverband bietet allen angeschlossenen Apotheken die Möglichkeit, sich in einem Web-Portal anzumelden, dort die Daten der Person einzugeben, die einen Impfausweis vorlegt, und den digitalen Impfnachweis herunterzuladen. Auch hier zeigten sich schnell gravierende Versäumnisse. So sind die entsprechenden Portale nur mit einer Kombination aus Benutzernamen und Passwort gesichert, wobei jede Apotheke einen einzigen Zugang erhält.

Mehr Impfnachweise als Impfungen

Insgesamt gibt es 42 Millionen mehr Impfnachweise als es überhaupt Impfungen gab – teilweise wurden Zertifikate mehrfach ausgestellt, weil das Impfzentrum erst im Nachhinein ein solches generiert hat, die Geimpften sich aber bereits vorher in der Apotheke ihren Nachweis abgeholt haben. Möglicherweise wurden Zertifikate auch mehrfach ausgestellt, weil einem Apotheker ein Fehler bei der Dateneingabe unterlaufen ist. Zudem sind hunderttausende Impfnachweise in Deutschland mit derselben digitalen Unterschrift signiert, etwa der des Apothekerverbands. Im Missbrauchsfall wäre es praktisch unmöglich, die ausgestellten Zertifikate durch ein Widerrufen der digitalen Unterschrift nachträglich ungültig zu machen. Denn damit müssten auch alle legitim ausgestellten Impfnachweise neu ausgestellt werden. Theoretisch hätte jeder und jede Mitarbeitende in einer Apotheke eine eigene Signatur bekommen müssen, um den Impfnachweis digital zu „stempeln“. Das wäre technisch ohne weiteres möglich, allerdings mit Mehraufwand verbunden.
Darüber hinaus sind einige wichtige Daten im digitalen Impfnachweis gar nicht hinterlegt, die im gelben Impfbuch enthalten sind. Dazu gehören beispielsweise der Ort der Impfung oder die Chargenbezeichnung des verimpften Wirkstoffs. Apotheken haben keine technische Möglichkeit, die Echtheit der Daten zu verifizieren. Sie müssen also zunächst davon ausgehen, dass die vorgelegten Impfpässe echt sind. So überrascht es nicht, dass Menschen Wege suchten, einen Impfnachweis auch ohne Impfung zu erhalten. Schnell tauchten im Internet Web-Seiten auf, auf denen Betrüger gefälschte gelbe Impfpässe zum Kauf anboten, die „garantiert anerkannt würden“. Selbst digitale Impfnachweise wurden gehandelt. Bittere Ironie: In einigen dieser kriminellen Webshops war auch ein TV-Interview mit Thomas Siebert zum Thema verlinkt, mit dem Hinweis „Seht ihr – unsere Nachweise funktionieren wirklich!“

Auch die Corona-Apps lassen zu wünschen übrig

Auch die Systeme – vor allem die Apps – und die Prozesse, welche die Bürger nutzen sollen, lassen zu wünschen übrig. Die ansonsten zurecht vielgelobte Corona-Warn-App (CWA) bot die Möglichkeit, den digitalen Impfnachweis einzuscannen, um ihn bei Bedarf vorzuzeigen. Das funktionierte auch – allerdings erkannte die App anfangs keine gefälschten Impfzertifikate. Auch die CovPass-App erkannte ein erfundenes Zertifikat als gültig an. Aus rein technischer Sicht ergibt das sogar Sinn, denn der Prozess sieht vor, dass zum Scannen und Validieren die CovPassCheck-App zum Einsatz kommt und dass die angezeigten Daten mit einem vorgelegten Ausweis abgeglichen werden. Allerdings war die CovPassCheck-App gerade am Anfang kaum verbreitet. Eine korrekte Prüfung hatte daher lange Seltenheitswert.
Hinzu kommt, dass es keine großen Programmierkenntnisse erfordert, um sich zu Hause einen digitalen Impfnachweis selbst zu basteln. Vielmehr geht dies innerhalb von Sekunden, wie es auch Siebert vor laufender Kamera demonstrierte. Die Umsetzung des digitalen Impfnachweises stellt so praktisch eine offene Einladung zum Missbrauch dar und Siebert ließ keinen Zweifel daran, dass es diesen im großen Maßstab geben werde. Diese Voraussage sollte sich mehr als bewahrheiten. So schätzte vor Kurzem der Präsident der Apothekerkammer Baden-Württemberg, Martin Braun, dass sich die Anzahl der im Umlauf befindlichen gefälschten Nachweise im sechsstelligen Bereich bewegen dürfte.
Mittlerweile wurde technisch zwar die Möglichkeit zum Blockieren einzelner Impfnachweise geschaffen, sodass diese dann nicht mehr als gültig anerkannt werden. Praktisch wird diese Möglichkeit in Deutschland aber kaum genutzt. Die Corona-Warn-App etwa blockiert nur die Impfnachweise einer einzigen Münchner Apotheke, die beim Erstellen von Fälschungen erwischt wurde. Andere Länder haben vergleichbare Möglichkeiten zum Blocken falscher Impfnachweise geschaffen, ein internationaler Abgleich der Listen findet aber nicht statt. Ein falscher Impfnachweis, der in einem Land als ungültig markiert ist, könnte in einem anderen Land also nach wie vor den begehrten grünen Haken tragen.

Nachträglich Sicherheit einbauen? Schwierig bis unmöglich

Zurück bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass es schwer bis unmöglich ist, nachträglich Sicherheit in ein bestehendes System einzubauen. Das resultiert nur in einer unsäglichen Flickschusterei, bei der bloß Lücken gestopft werden, die es bei besserer Planung gar nicht erst gegeben hätte. Ein so kritisches System mit heißer Nadel zu stricken, schadet nicht nur der Sicherheit als Ganzes. Es ist auch enorm schädlich für das Vertrauen von Menschen in ein System, das sie eigentlich schützen sollte. Konsequenz: Zwischenzeitlich weigerten sich einige Händler und Restaurants, den gelben Impfpass als Nachweis einer Impfung anzuerkennen – weil der ja gefälscht sein könnte.

Tim Berghoff ist Security Evangelist bei der G DATA CyberDefense AG, Bochum.




Anzeige

Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: IT-Sicherheit
Eine Lichtschlossillustration mit Postumschlägen auf modernem Computerhintergrund.

SEP/Databund: Kooperation für IT-Sicherheit

[29.11.2024] SEP, Hersteller der Datensicherungslösung SEP sesam, ist jetzt Mitglied des Databund. Die in Deutschland entwickelte Backup-Lösung wird bereits von zahlreichen öffentlichen Institutionen eingesetzt. Mit dem Beitritt zu Databund will SEP den Austausch mit anderen Akteuren der öffentlichen Verwaltung fördern. mehr...

Von links halten Bastian Schäfer von der ekom21, Staatssekretär Martin Rößler und Prof. Dr.-Ing. Jörn Kohlhammer vom Fraunhofer IGD den Förderbescheid des Landes Hessen.

Fraunhofer IGD / ekom21: Cybergefährdungslagen visualisieren

[21.11.2024] Neue interaktive Visualisierungen von IT-Gefährdungslagen sollen in einem Forschungsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD und des IT-Dienstleisters ekom21 entstehen. Das vom Land Hessen geförderte Vorhaben berücksichtigt auch die Bedürfnisse kleinerer Institutionen wie Kommunen. mehr...

Modern eingerichteter Sitzungssaal mit weißen Tischen und Wänden.

Märkischer Kreis: Neue IT-Projekte im Fokus

[20.11.2024] Grünes Licht für die Haushaltsansätze im Bereich Digitalisierung und IT gab der Ausschuss für Digitalisierung und E-Government des Märkischen Kreises. Geplant sind Investitionen in IT-Sicherheit, Netzwerkinfrastruktur und den weiteren Ausbau digitaler Services. mehr...

Claudia Plattner (l.), Präsidentin des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), und Bundesinnenministerin Nancy Faeser präsentieren den Bericht zur Lage der IT-Sicherheit in Deutschland.

BSI: Bericht zur Lage der IT-Sicherheit

[12.11.2024] Die Bedrohungslage bliebt angespannt, die Resilienz gegen Cyberangriffe aber ist gestiegen. Das geht aus dem aktuellen Bericht zur Lage der IT-Sicherheit in Deutschland hervor, den das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) nun vorgestellt hat. mehr...

LivEye: Sicherheitsüberwachung auf Weihnachtsmärkten

[08.11.2024] Für die Sicherheitsüberwachung auf Weihnachtsmärkten hat das Unternehmen LivEye ein neues Konzept entwickelt, das Datenschutz und effektive Gefahrenabwehr kombiniert. mehr...

Innenminister Roman Poseck eröffnete den Cybersicherheitsgipfel im Regierungspräsidium Darmstadt vor mehr als 100 Vertreterinnen und Vertretern südhessischer Kommunen.

Hessen: Höhere Cybersicherheit

[05.11.2024] Mit dem Aktionsprogramm Kommunale Cybersicherheit sollen hessische Kommunen umfassender in der IT-Sicherheit unterstützt und auf künftige Cyberangriffe vorbereitet werden. mehr...

Illustration: Stilisierter aufgeklappter Laptop mit Piratenfahne über dem Display, einen Ransomware-Angriff symbolisierend.

SIT: Ein Jahr nach dem Ransomware-Angriff

[04.11.2024] Ein Jahr nach der Cyberattacke auf die Südwestfalen-IT haben die Mitarbeitenden gemeinsam mit den IT-Teams betroffener Kommunen die Systeme wiederhergestellt. Um künftig besser gegen Cyberbedrohungen geschützt zu sein, fordert Geschäftsführer Mirco Pinske klarere gesetzliche Regelungen – etwa die Berücksichtigung kommunaler IT-Dienstleister in der NIS2-Richtlinie. mehr...

Screenshot eines pixeligen Bildschirms. Zu sehen ist auf dunklem Grund die hellblaue Schrift "Security", eine Mauszeigerhand zeigt darauf.

Sachsen-Anhalt: Mehr IT-Sicherheit für Kommunen

[04.11.2024] Um die Cybersicherheit in Sachsen-Anhalts Kommunen zu stärken, startete das Land gemeinsam mit dem BSI das Pilotprojekt SicherKommunal. Durch das Projekt sollen Städte, Landkreise und Gemeinden gezielt bei der Verbesserung ihrer IT- und Informationssicherheit unterstützt werden. mehr...

bericht

Lösungen: Cybersicherheit stärken

[13.09.2024] Die NIS2-Richtlinie bietet die Chance, die IT-Sicherheit auf ein deutlich höheres Level zu heben, ist aber auch mit Herausforderungen verbunden. Kommunen benötigen zudem Lösungen, die speziellen IT-Sicherheitsanforderungen genügen. mehr...

Zwei Versionen der Videokonferenzlösung Zoom haben ein IT-Sicherheitskennzeichen vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik erhalten.

BSI: IT-Sicherheitskennzeichen für Zoom

[11.09.2024] Für zwei seiner Produkte hat der vielfach genutzte Videokonferenzdienst Zoom das IT-Sicherheitskennzeichen vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) erhalten. Geprüft wurden unter anderem der Accountschutz, Rechenzentrumsbetrieb und das Update- und Schwachstellenmanagement. mehr...

Die Panelteilnehmenden des Vitako-Empfangs.
bericht

IT-Sicherheit: Feuerwehr und Firewall

[02.09.2024] Cyberattacken treffen immer öfter auch Verwaltungen. Um kommunale IT besser abzusichern, fordert Vitako eine Reihe von Maßnahmen: eine stärkere Vernetzung, mehr Mittel, den Ausbau des BSI zur Zentralstelle und die Schaffung eines regulativen Rahmens. mehr...

Bayerns Finanz- und Heimatminister Albert Füracker (2.v.r.) übergibt das LSI-Siegel „Kommunale IT-Sicherheit“ an die Stadt Schwandorf.

Schwandorf: Siegel für IT-Sicherheit

[29.08.2024] Die Stadt Schwandorf hat vom bayerischen Landesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (LSI) jetzt das Siegel „Kommunale IT-Sicherheit“ erhalten. mehr...

Mirco Pinske

Interview: Wertvolle Lehren gezogen

[14.08.2024] Nach dem umfassenden Cyberangriff arbeitet der IT-Dienstleister Südwestfalen-IT an einer strategischen Neuausrichtung. Im Kommune21-Interview berichtet Geschäftsführer Mirco Pinske, wie die Aufarbeitung vorangeht und welche Konsequenzen bereits gezogen wurden mehr...

In München kümmert sich jetzt eine eigene Hauptabteilung um die IT-Sicherheit.

München: Hauptabteilung für IT-Sicherheit

[02.08.2024] Die bayerische Landeshauptstadt München misst der IT-Sicherheit einen hohen Stellenwert bei. Um dies zu verdeutlichen, wurde im IT-Referat jetzt eine neue Hauptabteilung für Cybersecurity gegründet. Geleitet wird sie von Chief Information Security Officer Thomas Reeg. mehr...

ITEBO: OpenR@thaus-Vorfall aufgearbeitet

[23.07.2024] Mit seinem Verwaltungsportal OpenR@thaus liefert ITEBO zahlreichen Kommunen eine Basisinfrastruktur, um Leistungen, wie vom OZG vorgesehen, digital anbieten zu können. Im Juni war die Lösung aus Sicherheitsgründen offline gestellt worden. Nun berichtet ITEBO im Detail über den Vorfall und dessen Aufarbeitung. mehr...