ForschungServices für Senioren

Im Projekt MobileAge entstehen Dienste in Co-Creation mit künftigen Nutzern.
(Bildquelle: ifib/Tim Schütz)
Angesichts der zunehmenden Verlagerung öffentlicher Dienstleistungen in das Internet möchte das auf drei Jahre angelegte EU-Projekt MobileAge dazu beitragen, dass ältere Menschen in Europa an dieser Entwicklung aktiv teilhaben können. Denn Online-Angebote im Allgemeinen und speziell solche der öffentlichen Verwaltung weisen bezüglich ihrer Seniorengerechtigkeit erhebliches Verbesserungspotenzial auf. Die Herausforderung besteht dabei nicht zuletzt darin, zu definieren, was unter seniorengerecht zu verstehen ist und wie entsprechende Online-Angebote aussehen sollen. Neben der Verbesserung der Nutzbarkeit, wie sie zum Beispiel durch die Gestaltung von barrierefreien Web-Seiten erreicht werden kann, müssen auch die Inhalte der Anwendungen verstärkt an den Bedürfnissen und Interessen älterer Menschen ausgerichtet werden. Deren Lebenssituation muss in Zusammenhang mit individuellen sozioökonomischen, kulturellen und gesundheitlichen Faktoren betrachtet werden. Bleiben diese Unterschiede unberücksichtigt, führt dies häufig zu einer einseitigen Fokussierung auf körperliche und geistige Defizite älterer Menschen. Ihre verschiedenartigen Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen bleiben unerkannt.
Co-Creation mit Senioren
Im Rahmen des von der EU-Kommission im Förderschwerpunkt „ICT-enabled Open Government“ geförderten Forschungs- und Entwicklungsprojekts MobileAge entwickelt und erprobt ein Konsortium aus Forschungsinstituten, Verwaltungen, NGOs und IT-Unternehmen aus sechs europäischen Ländern seit Februar 2016 auf offenen Daten basierende Online-Dienste für und mit Senioren. Ziel ist zum einen die Entwicklung funktionierender Prototypen sowie deren Übernahme und Pflege durch bestehende kommunale Online-Portale. Darüber hinaus sollen Methoden und Verfahren entwickelt werden, die es Verwaltungen und anderen Dienstanbietern europaweit ermöglichen, ältere Menschen in Zukunft effektiv und nachhaltig in die Entwicklung von Online-Services einzubeziehen. Die Besonderheit des Projekts besteht darin, dass in den gesamten Prozess der Entwicklung Senioren umfassend einbezogen werden. Die so genannte Co-Creation von öffentlichen Diensten bezieht sich auf die Kooperation im Gestaltungs- und Entwicklungsprozess von Anwendungen sowie auf die grundsätzlich angestrebte Zunahme an Partizipation zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Entwicklung, dem Anbieten und der Pflege öffentlicher Dienste und offener Daten. Der im Projekt MobileAge verfolgte Ansatz der Co-Creation erweitert daher die traditionelle Nutzerbeteiligung bei IT-Systemen, die sich häufig auf eine Befragung zu Beginn und einen Nutzertest des fertigen Angebots beschränkt. Der Anspruch von Co-Creation ist die gemeinsame Arbeit von einem Dienstanbieter mit einer Gruppe von zukünftigen Nutzern und Technikentwicklern über den gesamten Prozess der Gestaltung und Entwicklung hinweg. Sie beginnt bei der Identifizierung eines für die Zielgruppe relevanten Themas und reicht über dessen schrittweise Konkretisierung und die Bestimmung der inhaltlichen und technischen Anforderungen an ein entsprechendes Online-Angebot bis hin zu dessen Umsetzung – zunächst in Prototypen auf Papier und anschließend in mehreren Revisionen in digitale Versionen auf unterschiedlichen technischen Geräten (PC, Tablet, Smartphone).
Umsetzung zweier Szenarien in Bremen
Von klassischen Beteiligungsformen, wie beispielsweise Nutzertests, unterscheidet sich Co-Creation nicht zuletzt durch die Intensität und Dauer der Zusammenarbeit der verschiedenen Partner. Dadurch, dass den beteiligten Bürgern ein größerer Mitgestaltungsraum gewährt wird, werden auch höhere Anforderungen an ihre Mitarbeit gestellt. Die Umsetzung des Co-Creation-Prozesses stellt die Initiatoren daher vor das Dilemma, den Prozess einerseits so offen wie möglich zu gestalten, um die Interessen und Vorstellungen der Zielgruppe berücksichtigen zu können. Um die Teilnehmer für eine längere und verbindliche Kooperation zu gewinnen, ist es aber gleichzeitig notwendig, mehr oder weniger konkrete Angaben zu den Anforderungen, zum zeitlichen Ablauf und zu möglichen Ergebnissen zu formulieren. Die Rekrutierung und Verpflichtung von Senioren für einen Co-Creation-Prozess erfordert daher strategische Maßnahmen, wie die Einbeziehung von lokalen Multiplikatoren und Vermittlern, sowie die Einbettung der geplanten Schritte in vorhandene Strukturen. Im Bremer Pilotprojekt wird an der Umsetzung von zwei Szenarien gearbeitet: Einem multimedialen und mobil nutzbaren Stadtteilwegweiser für ältere Menschen und einem Informationsangebot zu den verschiedenen Möglichkeiten altersgerechten Wohnens. Im Falle der geplanten co-creativen Entwicklung eines digitalen Stadtteilwegweisers wurden zunächst bestehende relevante Angebote und Akteure ausfindig gemacht. Mithilfe lokaler Multiplikatoren wie Sozialarbeitern, Kirchengemeinden und Verwaltungsvertretern konnten bisher zwölf Seniorinnen und Senioren gewonnen werden, sich auf eine Mitwirkung an dem skizzierten Prozess einzulassen und gemeinsam mit den Initiatoren bis Ende dieses Jahres einen funktionierenden Prototyp zu entwickeln.
Nutzer als Experten ernst nehmen
Wesentlicher Bestandteil einer solch neuen und umfassenden Form der Mitgestaltung bei der Entwicklung von Online-Diensten sind Methoden, welche die Offenheit des Prozesses garantieren und die späteren Nutzer als Experten ihrer Lebenswelt ernst nehmen. Klassische Verfahren der Bedarfsermittlung, wie etwa Fragebögen, erweisen sich aufgrund ihrer Vorstrukturierung als ungeeignet, um die Probleme, Bedürfnisse und Ressourcen der Teilnehmer zu erfassen. In dem Bremer Pilotprojekt wurden daher in der ersten Phase qualitative, ethnografisch-orientierte methodische Hilfsmittel eingesetzt, so genannte Cultural Probes. Aufbauend auf Vorarbeiten des Projekts ParTec, welches unter der Leitung von Professorin Susanne Mass partizipative Vorgehen bei der Entwicklung von Technologien für den demografischen Wandel untersucht hat, wurden verschiedene Materialien entwickelt – etwa ein Tagebuch, auf Postkarten gedruckte Reflexionsaufgaben oder Stadtteilkarten. Darüber hinaus wurden Einwegkameras ausgegeben, welche die teilnehmenden Senioren bei der Erkundung und Dokumentation ihres Alltags in Hinblick auf ihren Stadtteil, ihr soziales Umfeld sowie ihre Technologie- und Mediennutzung unterstützen. Hilfsmittel und Materialien wie die Cultural Probes ermöglichen tiefe und authentische Einblicke in den Alltag, die Probleme und Visionen derjenigen, mit denen und für welche die Systeme entwickelt werden. Neben der Bedarfsermittlung erwiesen sich die sorgfältig gestalteten Materialien auch als äußerst motivierend für die Bereitschaft, sich für den Co-Creation-Prozess zu verpflichten, da sie eine Wertschätzung der Mitwirkenden verkörpern.
Dieser Beitrag ist in der September-Ausgabe von Kommune21 erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren.
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