Round TableVerlorene Jahre?
Auf Einladung der Deutschen Post diskutierten am 8. August 2012 Experten in Bonn über das Thema „Behördenkommunikation 2020 – E-Government und Bürgernähe vereinen“.
Die Runde (v.l.): Reinhold Harnisch, Geschäftsführer KRZ Lemgo; Dr. Sönke E. Schulz, Geschäftsführer Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften an der Universität Kiel; Heinz-Hermann Herbers, Geschäftsbereichsleiter Vertrieb BRIEF Öffentliche
(Bildquelle: K21 media AG)
Das Statistische Bundesamt hat ermittelt, dass 2011 fast 34 Millionen Internet-Nutzer online mit der öffentlichen Verwaltung in Kontakt getreten sind. Ein Drittel der Internet-Nutzer hat Formulare heruntergeladen. Die elektronische Rücksendung ausgefüllter Formulare haben nur 17 Prozent in Anspruch genommen. Ist E-Government angesichts dieser Zahl nicht gescheitert?
Habbel: Seit gut 20 Jahren sprechen wir über E-Government. In diesem Zeitraum ist einiges passiert, wie zum Beispiel die Verbesserung der Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden. Auch interkommunale Kooperationen hat das Thema vorangebracht. Aber in der eigentlichen Sache, die Modernisierung der Verwaltung voranzutreiben, ist uns noch nicht viel gelungen. Da hätte ich mir mehr gewünscht. Insoweit spreche ich von „verlorenen Jahren“.
Woran liegt es, dass E-Government-Angebote nicht besser genutzt werden?
Habbel: Die relativ niedrigen Nutzerzahlen sind vor allem damit zu erklären, dass viele Angebote noch nicht den Erwartungen der Bürger entsprechen. Sie möchten online mit der Verwaltung kommunizieren, ähnlich wie sie es auch im Geschäftsleben tun. Es gibt einfach noch zu viele Schriftformerfordernisse, die eine Online-Verwaltung hemmen. Allerdings sollten wir auch nicht der Illusion unterliegen, dass alle Bürger nur digital mit der Verwaltung kommunizieren wollen. Es wird immer Menschen geben, die andere Zugangsmöglichkeiten bevorzugen. Wichtig ist aber, dass nach dem Kontakt mit dem Antragsteller der Workflow innerhalb der Behörden komplett digital erfolgt. Um das zu erreichen, ist noch viel zu tun.
Herr Herbers, wie beurteilen Sie das aus Unternehmenssicht? Würden Sie auch von verlorenen Jahren sprechen?
Herbers: Ich würde Herrn Habbel zustimmen. Es wurde zwar viel in Technik und Infrastruktur investiert, aber nicht immer war klar, was damit eigentlich erreicht werden soll. Nehmen wir das Beispiel eines Bürgerportals: Wenn man dort zwar ein Formular ausfüllen kann, dieses aber herunterladen und dann einschicken muss, geht das an den Erwartungen der Bürger weit vorbei. Zudem hat ein Bürger im Schnitt etwa 1,3 Behördenkontakte im Jahr. E-Government sollte sich deshalb auf die massenrelevanten Prozesse konzentrieren und diese digitalisieren. Ich denke, das wäre ein sinnvoller Weg.
Herr Harnisch, Sie müssten eigentlich der Aussage widersprechen, dass beim E-Government zu wenig erreicht wurde.
Harnisch: Man muss hier differenzieren zwischen der internen Organisation und den externen Angeboten für Bürger und Wirtschaft. Bei der Verwaltungssteuerung läuft heute keine Transaktion mehr ohne den Einsatz von IT, und auch die internen Abläufe sind viel prozessorientierter angelegt als früher. Das Problem bei E-Government-Angeboten ist häufig ein extremes Sicherheitsdenken. Bei Bestellungen in einem Online-Shop wird ohne zu zögern das Geburtsdatum eingegeben, wer einen Parkausweis bei der Stadtverwaltung beantragt, scheut davor zurück. Zudem sagen die Datenschützer, dass das nicht sein darf. Aus wirtschaftlicher Sicht gebe ich Herrn Herbers recht: Wir müssen uns um die Massenprozesse kümmern. Aber gerade die sind bei den öffentlichen Aufgaben sakrosankt.
Was meinen Sie damit?
Harnisch: Im gesamten Bereich Jugend, Familie, Soziales, wo die großen Transaktionen laufen, tun wir uns außerordentlich schwer, weil die Furcht groß ist, dass die Menschen gläsern werden. Chip-Karten für Sozialleistungsbezieher sind kaum durchsetzbar und im gesamten Schulbereich ist es aus Datenschutzgründen außerordentlich schwierig, mit elektronischen Medien zu arbeiten. Auch im Kleinen stoßen wir auf Hindernisse. Wir entwickeln beispielsweise derzeit eine E-Government-Lösung für die Erhebung von Elternbeiträgen. Das ist ein Selbstauskunftsverfahren, und wir müssen Regeln und Vorschriften beachten, die einen enormen Aufwand verursachen. Es stellt sich die Frage, ob dieser gerechtfertigt ist, wenn es lediglich um eine banale Auskunft geht, bei der Eltern angeben, wie viel sie verdienen.
Herr Schulz, wie analysieren Sie aus wissenschaftlicher Sicht die Entwicklung beim E-Government?
Schulz: Ich sehe im Wesentlichen zwei Punkte. Man hat viele Jahre versucht, vorhandene Arbeitsabläufe zu digitalisieren, ohne gleichzeitig die Prozesse und die Organisation zu verändern. Durch dieses Versäumnis ist nicht nur einiges ins Stocken geraten, sondern vieles auch noch komplizierter geworden. Dies hat wiederum dazu geführt, dass die Anreize, E-Government-Angebote zu nutzen, so gering sind. Es gibt ja all die Web-Portale, die im Prinzip gut durchdacht sind. Aber der Bürger muss sich bei verschiedenen Behörden jeweils anmelden, die Formulare sehen anders aus und die Struktur sowie die Benutzerführung sind verschieden. Da ist es im Zweifel dann analog doch einfacher. Ein Blick in die Online-Wirtschaft zeigt, dass es auch anders geht.
Habbel: Ich kann dem nur zustimmen. Die Strukturen sind nicht hinterfragt oder angepasst worden. Vor allem aber hat E-Government noch nicht den politischen Stellenwert erreicht, um die Themen Energiewende, Mobilität oder Gesundheit anzugehen. Das sind Bereiche, die für die Bürger immanent wichtig sind, weil sie ihre Lebenssituation betreffen. Wir müssen diese Politikfelder beim Thema E-Government stärker in den Blick nehmen: Wie können wir durch bessere Information und Kommunikation diese politischen Aufgabenstellungen meistern?
Heißt das, E-Government wurde zu sehr als Projekt zur internen Verwaltungsmodernisierung gesehen?
Habbel: Wenn man so will, ging es um eine reine Prozessmodernisierung. Verwaltungsabläufe verändern, Prozessketten aufbauen, das ist ja alles richtig. Wir sind nur nicht weit genug vorangekommen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Reform des Sozialstaates. Die gesamten Sozialleistungen sind undurchschaubar geworden. IT-Lösungen können hier nicht nur für Transparenz sorgen, sondern auch die Wirkungen messen. Spezielle Analyseverfahren können aufzeigen, was passiert, wenn bestimmte Hilfemaßnahmen eingeleitet werden. Hinzu kommt, dass sich die gesamte Wohlfahrtsindustrie mit einem Umsatz von jährlich rund 50 Milliarden Euro überhaupt noch nicht mit dem Thema E-Government auseinandergesetzt hat.
Harnisch: Ich denke auch, das große Manko liegt darin, dass E-Government eigentlich ein Thema für die Verwaltung ist. Dabei können elektronische Prozesse dafür sorgen, dass die Bürger nicht mehr als Bittsteller betrachtet werden. Politik und Verwaltung müssen deutlich machen, dass sie bürgerorientierte Angebote schaffen wollen. Leider ist das Beharrungsvermögen der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sehr groß. Deshalb muss eine Verwaltungskultur geschaffen werden, welche die Beschäftigten mitnimmt und sie dazu bringt, Veränderungen zu gestalten und zu akzeptieren. Was wir ebenfalls brauchen, ist Bürgerbeteiligung. Wenn wir Bürgerservices anbieten, dann sollten diese weniger aus Verwaltungssicht und mehr aus Sicht der Nutzer gedacht werden. Wir müssen also auch beim E-Government den Dialog mit den Bürgern suchen.
Schulz: Ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Staats-, Verwaltungs- und Bürgersicht ist meiner Ansicht nach der Datenschutz. Während der eine Bürger es erlauben würde, dass seine Daten von allen Behörden genutzt werden können – unter der Voraussetzung, dass eine Einwilligung dafür vorliegt – ist ein anderer dazu nicht bereit. Eine solche Wahlmöglichkeit gibt es bisher nur eingeschränkt.
Harnisch: Konsequente Einwilligungsverfahren sind überhaupt nicht geplant. Auch das E-Government-Gesetz sieht nur eine direkte Übersendung von Nachweisen bei Einwilligung vor.
Früher haben sich Verwaltung und Bürger per Brief ausgetauscht. Heute läuft der Schriftverkehr häufig per E-Mail. E-Postbrief und De-Mail sollen nun für eine rechtssichere und zuverlässige Kommunikationsinfrastruktur sorgen. Wo liegen hier die Vorteile für Behörden und ihre Kunden?
Habbel: Verwaltung sanktioniert den Status quo. Ich frage mich, ob eine Stadtverwaltung überhaupt noch Briefpapier und -umschläge braucht. Beispielsweise könnten die Geschäftsvorgänge per E-Postbrief mit den Bürgern so organisiert werden, dass die Briefanzahl deutlich sinkt und gleichzeitig die Qualität der Verwaltung besser wird.
Herr Herbers, kann der E-Postbrief das leisten – und was unterscheidet ihn von De-Mail?
Herbers: De-Mail ist lediglich ein rechtssicherer Ein- und Ausgangskanal, der aber sonst keine Verbindungen schafft. Der E-Postbrief hingegen kann deutlich mehr, als einen Brief elektronisch von A nach B zu transportieren. Es handelt sich um eine Plattform, auf der Transaktionen elektronisch abgewickelt werden können, inklusive einer Bezahlfunktion. Die Nutzer werden sicher identifiziert und verschiedene Fachverfahren können angedockt werden. Dies führt dazu, dass gerade im kommunalen Bereich die Geschäftsprozesse verbessert werden können.
Gibt es erste Praxiserfahrungen in Kommunen?
Harnisch: Wir setzen den E-Postbrief selbst im KRZ ein. Und es gibt erste Kommunen, welche auch die E-Postbrief-Gateways nutzen. Hier können die Prozesse angedockt werden, um medienbruchfreie Verwaltungsleistungen mit einer eindeutigen Identifikation anbieten zu können.
Wenn Sie das ganz konkret fassen für einen bestimmten Vorgang, wo liegen die Vorteile einer solchen Plattform?
Harnisch: Die wesentlichen Vorteile liegen für mich erst einmal in der Beschleunigung der Verwaltungsprozesse und auch in der Steigerung des Komforts. Nehmen wir an, ich brauche einen Kindergartenplatz. Wie melde ich den an? Mein Kind ist bekannt, denn es steht im Einwohnermelderegister, ebenso wie die Eltern. Die Verwaltung besitzt also schon alle Daten. Es geht eigentlich nur darum, dass diese Daten auf einer Transaktionsplattform sicher gebündelt werden, um einen bestimmten Vorgang abzuwickeln.
Herr Habbel, das geht doch in die Richtung, die Sie gerade angesprochen haben.
Habbel: Ja, es geht in die Richtung. Wir brauchen ein integratives E-Government, bei dem ganz unterschiedliche Teilprozesse verbunden sind. Fast jedes Verfahren braucht eine Payment-Funktion und es wäre irrational, wenn 11.000 Kommunen sich ihre Bezahlfunktionen selber organisieren. Das kann man über Rechenzentren zusammenfassen. Das heißt, wir brauchen ein Komponentensystem, über das bestimmte Teilprozesse, die immer wiederkehren, abgewickelt werden können. Dazu gehören Buchungs-, Bezahl- und Identifizierungssysteme, aber auch Dokumenten-Management-Systeme, die sowohl vertikal als auch horizontal in der gesamten Verwaltung genutzt werden können.
Herr Schulz, es gibt zahlreiche Studien, die belegen, welche Kosteneinsparungen durch E-Government möglich sind. Woran liegt es, dass das zu den Entscheidungsträgern in den Kommunen noch nicht durchgedrungen ist?
Schulz: Auch das liegt daran, dass E-Government ein Binnenthema ist. Kommunalpolitiker können keinen Wahlkampf damit machen, dass die kommunale IT-Infrastruktur modernisiert oder der komplette Posteingang mithilfe hoher Investitionen digitalisiert wurde. Ich glaube, dass das gerade auf kommunaler Ebene ein entscheidender Faktor ist. Ein zweiter Aspekt ist, dass die wirklichen Einspareffekte nur dann erzielt werden, wenn Kommunen im IT-Bereich enger zusammenarbeiten. Das bedeutet jedoch, dass eigene Zuständigkeiten abgegeben werden. Darauf wollen sich viele Entscheidungsträger nicht einlassen. Das muss überwunden werden.
Herbers: Wir wissen aus einer Untersuchung, die wir gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen gemacht haben, dass mit der Einführung von Dokumenten-Management-Systemen und der Digitalisierung aller Prozesse, die mit Briefen zu tun haben, bis zu 70 Prozent der Kosten eingespart werden können. Wir sehen auf der anderen Seite aber natürlich auch, dass es aufgrund der finanziellen Situation der Kommunen schwierig ist, die dafür notwendigen Investitionen zu tätigen.
Habbel: Und das wird sich noch zuspitzen. Wir haben ab 2014 eine Schuldenbremse, die dazu führt, dass Bund, Länder und Gemeinden nur noch 14 Milliarden Euro Schulden pro Jahr machen dürfen. Das heißt, wir stehen vor der Herausforderung, unsere Verwaltung hinsichtlich der Prozessaufwandsleistung wesentlich effizienter zu gestalten. Deshalb glaube ich, dass jetzt massiv in IT investiert werden muss. Nur so können wir die administrativen Aufwendungen deutlich reduzieren und die Mittel in wertschöpfende Tätigkeiten des öffentlichen Sektors wie zum Beispiel Kinderbetreuung investieren. Wenn wir das nicht schaffen, liegt der Umschwung zu einer modernen Verwaltung in weiter Ferne. Wir werden weiterhin in der Verschuldung versumpfen und in einem Schuldenstaat enden.
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