Mittwoch, 8. Januar 2025

InterviewWeg und Ziel nicht verwechseln

[05.05.2022] Die Corona-Pandemie hat den schlechten Ausstattungszustand der Gesundheitsämter offenbart. Michael Ziemons, Gesundheitsdezernent der Städteregion Aachen, erklärt, warum es zu Beginn der Pandemie ohne Faxgerät nicht ging und was sich seitdem alles getan hat.
Dr. Michael Ziemons

Dr. Michael Ziemons, Gesundheitsdezernent der Städteregion Aachen

(Bildquelle: Barbara van Rey)

Herr Dr. Ziemons, wie sah die Situation der Gesundheitsämter im März 2020 in Aachen aus, als die Corona-Pandemie begann? Welche Rolle spielte das Faxgerät?

Wir benutzen im Gesundheitsamt in Aachen schon seit 20 Jahren eine digitale Fachanwendung. Als die Corona-Pandemie begann, fehlte es vor allem in Laboren und Arztpraxen an Möglichkeiten, Fälle digital so zu melden, dass sie bei uns in die Fach­anwendung passen. Insofern quoll wirklich jeden Morgen das Faxgerät über. Wir waren auf Infektionskrankheiten wie Masernausbrüche und Tuberkulosefälle vorbereitet, aber nicht auf eine Pandemie. Alles kam per Fax an und musste händisch in die Fachanwendung getippt werden. Das dauerte pro Fall zehn bis 15 Minuten. Auch Fallzahlen digital ans Robert Koch-Institut (RKI) zu melden, funktionierte nicht. Wir konnten Fälle digital erfassen und eine digitale Fall­akte führen, haben dann aber eine E-Mail an das Landeszentrum für Gesundheit (LZG) in Bochum geschickt und von dort wurde ans RKI gemeldet.

Die Überlastung der Gesundheitsämter hat den schlechten Ausstattungszustand der Behörden offenbart. Mangelte es nur an IT-Ausstattung?

Es gab schon einige Gesundheitsämter, die mit einer Fachanwendung gearbeitet haben, viele Kolleginnen und Kollegen in anderen Kommunen haben aber auch Excel-Tabellen genutzt. Auch bei uns hat es eine gewisse Zeit gebraucht, bis unsere Computer-Firma die neue Infektionskrankheit Covid-19 und alle Tools wie ein Symptomtagebuch und so weiter dazu programmiert hatte. Es waren aber nicht alleine die Gesundheitsämter, bei denen es zunächst schleppend lief. Auch die Labore waren nicht in der Lage, ihre Fälle digital zu melden. Wir haben hier in der Städteregion sogar ein Labor, das bis heute nur mit Fax arbeitet, obwohl das gesetzlich gar nicht mehr erlaubt ist.

Die kommunalen Spitzenverbände haben als Kernproblem die mangelnde digitale Vernetzung identifiziert…

Ein Fehler war sicherlich, digitale Vernetzung nur auf der horizontalen Ebene zu betrachten. Lange stand der digitale Austausch zwischen den Gesundheitsämtern im Fokus. Mindestens genauso wichtig ist aber die vertikale Ebene: vom Arzt ins Labor, vom Labor ans Gesundheitsamt, vom Gesundheitsamt ans LZG, vom LZG ans RKI. Diese Kette funktioniert bis heute nicht ordentlich und zu umständlich.

Was hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert?

Es ist sehr viel geschehen. Wir haben uns hier mit unserer Software so aufgestellt, dass wir alles digital bearbeiten können: von der Meldung und Erfassung von Fällen über Kontakt- und Symptomtagebücher bis hin zum Monitoring von Ausbrüchen. Wir können sogar eine Geokarte erstellen und darauf erkennen, wo wie viele Fälle sind. Und selbstverständlich sind wir in der Lage, Fälle digital auszutauschen. Jetzt brauchen wir noch eine datensparsame und sichere Lösung, um Veranstaltungen zu erfassen. Aber bitte nicht mit der unsicheren Luca-App. Ich wundere mich ständig, dass die noch nicht gehackt wurde. In Nordrhein-Westfalen haben wir uns für IRIS connect entschieden, eine Schnittstelle, an die sich verschiedene technische Lösungen wie etwa die Darfichrein-App andocken können.

„Die Instrumente des Pakts für den öffentlichen Gesundheitsdienst sind viel zu kompliziert.“

Warum nutzen Sie nicht die einheitliche SORMAS-Lösung, die den Gesundheitsämtern vom Bund zur Verfügung gestellt wurde?

Auch wir haben SORMAS aufgrund erheblichen politischen Drucks auf unsere Systeme gespielt und einen Vertrag mit dem Helmholtz-Institut geschlossen. Aber wir haben die Software niemals benutzt, weil man damit keine anderen Infektionskrankheiten erfassen kann. Wir müssten dann mehrere Programme nebeneinander laufen lassen. Ich würde behaupten, dass 90 Prozent der Gesundheitsämter, die SORMAS installiert haben, es am Ende nie genutzt haben. Aus meiner Sicht wurden Weg und Ziel verwechselt. Das Ziel ist, dass alle Gesundheitsämter digital und medienbruchfrei Fälle austauschen können. Der Weg dahin ist aber keine Einheitslösung, sondern sind kompatible Schnittstellen. Man muss jedoch unterscheiden zwischen Eigen- und Fachanwendungen. Es gab tatsächlich Gesundheitsämter, die sich quasi als Hobbyprogrammierer betätigt haben und mit einer sehr aufwendigen Excel-Tabelle hantieren. Im Vergleich dazu stellt SORMAS natürlich eine Verbesserung dar. Für jedes Gesundheitsamt, das eine professionelle Software eingesetzt hatte, war es allerdings ein Rückschritt. Ich verstehe diese Freude am Monopol hierzulande nicht.

Immerhin ein öffentliches Monopol…

Der Hersteller ist ein Forschungsinstitut, das anderen Handlungslogiken folgt, als auf dem Markt zu bestehen, und andere Inte­ressen hat als ein Gesundheitsamt. Wenn ich ein digitales Formular benötige, damit Patienten und Kontaktpersonen ihre Daten eintippen können, dann setzt das unser Software-Hersteller binnen zwei Wochen um. Das Helmholtz-Institut sagt womöglich, dass sie Ausbrüche monitoren und keine Servicelösungen für Bürger entwickeln wollen. Übrigens entspricht SORMAS auch nicht dem Datenschutz, da die Software nicht in der Lage ist, Dateien nach den geltenden Fristen rechtzeitig zu löschen. Wären der Aufwand und das Geld, das wir in SORMAS gesteckt haben, für IRIS connect verwendet worden, hätten wir keine Probleme bekommen.

Was müsste jetzt im Gesundheitswesen dringlich bezüglich der Digitalisierung noch alles geschehen?

Ich mache mir große Sorgen über die allgemeine Impfpflicht. Wenn sie kommen sollte, muss jedem klar sein, dass die Gesundheitsämter das nicht kontrollieren können. Ein Weg könnte die elektronische Patientenakte sein, dann sind aber die Krankenkassen in der Pflicht. Ich bin überzeugt, dass man mit viel Engagement auch definieren kann, wer auf welche Daten zugreifen darf. Das ist ja bislang das Problem. Dringlich ist natürlich auch weiterhin die schlechte Ausstattung mit Geräten. Die Instrumente des Pakts für den öffentlichen Gesundheitsdienst sind viel zu kompliziert, weil wir sehr aufwendige Anträge ­schreiben müssen. Darüber hinaus gibt es noch genügend Bereiche im Gesundheitsamt, die einen Digitalisierungsschub vertragen. Wir brauchen Lösungen, wie sie der Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit aufgestellt hat, bei­spielsweise IRIS connect. Bei allen Digitalisierungs­lösungen, die jetzt kommen, müssen wir immer den Datenschutz im Blick haben. Personenbezogene Gesundheitsdaten sind für viele Branchen sehr attraktiv. Deswegen müssen wir sie besonders schützen und nur sichere und datensparsame Lösungen einsetzen.

Interview: Helmut Merschmann

Kurzinfo: IRIS connect, IRIS connect ist eine öffentliche Datenschnittstelle für Gesundheitsämter, die im Rahmen der digitalen Kontaktnachverfolgung bei Covid-19 entwickelt wurde. Die Basisarchitektur ermöglicht den medienbruchfreien Datenaustausch mit den Fachanwendungen der Gesundheitsämter aus unterschiedlichen Anwendungslösungen heraus. Sie ist vom Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit initiiert und mit der Open Source Community entwickelt worden.



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