Interview:
E-Government braucht Zeit


[4.8.2015] Estland ist ein Vorbild für die erfolgreiche Digitalisierung von Staat und Gesellschaft. Kommune21 sprach mit Regierungsberater Ivar Tallo, Gründer der estnischen e-Governance Academy, über den Weg zu E-Estonia.

Ivar Tallo Herr Tallo, während in Deutschland viel über die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung diskutiert wird, hat Estland den Wandel bereits bewältigt. Wie beschreiben Sie den Weg zu E-Estonia?

Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 musste in Estland die öffentliche Verwaltung völlig neu aufgebaut werden, denn die Sowjet-Bürokratie war delegitimiert. Schon in den 1990er-Jahren entstand der Plan, den Staat mithilfe neuester Technologien zu modernisieren. Bereits 1997 wurden die wesentlichen Grundsätze einer Informationsgesellschaft formuliert. Es begann mit dem Bildungswesen – alle Schulen sollten Computer und Internet-Anschluss erhalten –, der öffentlichen Verwaltung und dem Bankensystem.

Welche Idee stand hinter der Verwaltungsmodernisierung?

Es ging beim Neuaufbau der öffentlichen Verwaltung darum, gleich auf Papier zu verzichten. Behörden und Bürger sollten miteinander kommunizieren können, ohne dass Verwaltungsmitarbeiter dazwischen geschaltet sind. Das war die wesentliche Idee, keine Einschränkungen durch Bürokratie, sondern direkte Online-Kommunikation.

Wie wurde das umgesetzt?

In den Behörden wurden entsprechende Informationssysteme aufgebaut und vernetzt. Die Regierung beschloss, eine Infrastruktur mit Service-Layern zu entwickeln, die Datenanfragen vermitteln. Der Aufbau dieser Architektur namens X-Road begann 2001. Mit Erfolg: Im Jahr 2006 waren alle Behörden über X-Road miteinander verbunden.

Was waren die Erfolgsfaktoren?

Die Entwicklung der Infrastruktur für den sicheren Datenaustausch war als offenes Projekt mit Open End angelegt, was manches erleichtert hat. Zudem wurde das Projekt von einer Gesetzgebung begleitet, um die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Estland erließ beispielsweise ein Informationsgesetz, das alle Behörden verpflichtete, wesentliche Informationen online zu veröffentlichen. Zudem müssen sie ein elektronisches Dokumenten-Register führen. Im 2006 erlassenen Verwaltungsverfahrensgesetz wurde festgelegt, dass der Staat die Daten von Bürgern nur einmal erfasst. Für Verwaltungsvorgänge nötige Informationen sollten aus den Datenbanken kommen. Wir fanden es lächerlich, wenn bereits vorhandene Daten abgefragt werden.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die Bürger aus?

Gegenfrage: Wie lange dauert es, bis Sie Ihre Steuererklärung ausfüllen? In Estland geht das in weniger als fünf Minuten mit ein paar Klicks. Deshalb werden 95 Prozent der Steuererklärungen über das Internet abgegeben. Auch bei Wahlen können die Bürger ihre Stimme online abgeben, was inzwischen rund ein Drittel der Wähler tun. Die Authentifizierung geschieht über die digitale ID-Karte, die von rund 70 Prozent der Bürger genutzt wird. Und: In Estland müssen Autofahrer ihren Führerschein nicht dabei haben. Die Polizei kann über das Internet auf alle nötigen Informationen zugreifen.

„Wir fanden es lächerlich, wenn bereits vorhandene Daten abgefragt werden.“

Seit 2015 können Ausländer eine virtuelle Staatsbürgerschaft in Estland beantragen. Was steckt dahinter?

Die Idee entstand, um ausländischen Geschäftsleuten das Leben zu erleichtern. Die E-Residency erlaubt auch ihnen eine digitale Authentifizierung und die digitale Unterschrift mittels eID-Karte. Um die virtuelle Staatsbürgerschaft zu erhalten, ist allerdings ein realer Kontakt mit einer Behörde nötig. Dabei werden biometrische Daten erfasst. Erst nach einem Hintergrund-Check erhält der Antragsteller den Ausweis. Online wählen darf er damit übrigens nicht.

Kann Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern eine Blaupause für erfolgreiches E-Government in anderen Staaten sein?

Ich habe inzwischen über 80 Länder, nicht nur in Europa, beraten, wie sie E-Government einführen können. Natürlich ist jedes Land anders und es geht auch nicht um standardisiertes E-Government, sondern um eine öffentliche Verwaltung, die durch moderne Technologien unterstützt wird. Was früher das Bürokratiemodell von Max Weber war, bietet heute vielleicht Estland: eine Art idealtypisches E-Government.

Können Sie der deutschen Regierung einen Rat geben, wie der digitale Personalausweis zum Erfolg geführt werden kann?

Ich weiß nicht genau, warum die eID in Deutschland nicht funktioniert. Aber im Moment berate ich die Regierung in Georgien zur gleichen Frage. Dort wurden drei Millionen eID-Karten ausgegeben und nur 3.000 Bürger nutzen sie. Wichtig ist in jedem Fall, dass es Anwendungen gibt, welche die Bürger häufig nutzen. Und es sollte keine bürokratischen oder finanziellen Hindernisse geben. In Estland wird die eID-Karte auch für Online-Bankgeschäfte eingesetzt, die Banken wurden per Gesetz verpflichtet, dies zuzulassen. Der Anteil an Online-Transaktionen im Bankgeschäft liegt in Estland bei 98 Prozent. Zudem können Esten mittels eID-Karte ihre Online-Kommunikation verschlüsseln, sodass nicht einmal der amerikanische Geheimdienst NSA mitlesen kann.

Das müsste ja insbesondere deutsche Politiker interessieren.

In der Tat. Aber Deutschland hat den großen Wurf ja schon gemacht und die Karten ausgegeben. Es ist meines Erachtens eine kleinere Sache, für den Erfolg zu sorgen. Estland hat die digitale ID-Karte 2002 eingeführt. In den ersten Jahren fanden die Bürger sie nützlich als Eiskratzer für Autoscheiben, um die Kreditkarte zu schonen. Heute will niemand mehr darauf verzichten. Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit der IT-gestützten Verwaltungsmodernisierung. Meine Erfahrung ist: Der Erfolg kommt nicht über Nacht, E-Government braucht Zeit.

Interview: Alexander Schaeff

Dieses Interview ist in der August-Ausgabe von Kommune21 erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren. (Deep Link)

Stichwörter: Panorama, Estland, International, Ivar Tallo

Bildquelle: e-Governance Academy

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